Die Sommer im Drina-Tal können heiß werden. Die dichten grünen Wälder rundherum dunsten dann wie im Dschungel. Damira Kečanović kann sich noch erinnern, wie sie als Kinder hinunter liefen zum Fluss und badeten. Mitten in ihrer Stadt, in Višegrad. "Vor dem Krieg war es mit den Nachbarn gut, wir haben Ostern und Bajram zusammen gefeiert. Ich hatte überhaupt keine Vorahnung. Wir haben ja wie eine Familie in unserer Stadt gelebt."

Als sie 15 Jahre alt war und der Frühling einen warmen Sommer ankündigte, begann die Jugoslawische Volksarmee (JVA) ihre Stadt zu bombardieren. Die Städte an der Drina, zunächst Bijeljina, dann Bratunac, Srebrenica, Foča und Višegrad wurden im April überrannt. Paramilitärische Einheiten verbreiteten Terror. Im Fall von Višegrad hießen sie die "Weißen Adler". Es folgten organisierte ethnische Säuberungen.

Damira Kečanović gedenkt in Višegrad der Opfer und ihrer eigenen Erinnerungen.
Foto: Adelheid Wölfl

Nicht-Serben vertreiben

Das Drina-Tal liegt an der Grenze zu Serbien. Ziel war es hier die Nicht-Serben zu vertreiben und zu ermorden, um die Region dann an Serbien anzuschließen. Man wollte die Grenze quasi "verschieben". Im Drina-Tal wurden im Krieg laut dem bosnischen Totenbuch insgesamt 28.135 Menschen getötet, über 16.000 waren Zivilisten. Die meisten Toten waren Menschen mit muslimischen Namen – nämlich 15.400, davon waren 2.672 Frauen. Die grausamsten ethnischen Säuberungen fanden bereits zu Kriegsbeginn von April bis August 1992 statt. 6.982 Zivilisten mit muslimischen Namen wurden in dem Zeitraum ermordet – das waren mehr als beim Genozid in Srebrenica drei Jahre danach.

Damira und ihre Familie wurden damals ins Fussballstadion mitten in der Stadt gebracht. "Die Tschetniks haben die Männer weggebracht. Später ist mein Vater in einem Massengrab gefunden worden" erzählt sie. In der Nacht habe sie die Hilferufe der Männer gehört – viele von ihnen wurden auf der berühmten Brücke über der Drina, die im gleichnamigen Roman von Ivo Andrić beschrieben wird, ermordet und hinunter gestürzt. "Das Wasser hat sie mitgenommen", meint Damira. Insgesamt 35 Männer aus ihrer Familie wurden in diesen Wochen ermordet.

Rosen für die ermordeten Menschen in Višegrad.
Foto: Adelheid Wölfl

Frauen vergewaltigt

Die Häuser der Muslime wurden geplündert, Schmuck und Geld gestohlen. Damira hörte auch die Schreie der vergewaltigten Frauen. Ihre Mutter unterschrieb schließlich, dass sie die Stadt verlassen würden. "Die anderen die das nicht taten, wurden in ein Haus gebracht, das angezündet wurde", so Frau Kečanović.

Am 14. Juni 1992 wurden in der Pionirska Straße im Haus von Adem Omeragić 59 Leute, vor allem Frauen und Kinder, aber auch ältere Menschen, eingeschlossen. Milan Lukić einer der "Weißen Adlern" wurde 2009 vom Haager Tribunal verurteilt. Er warf den Sprengstoff in das Haus in der Pionirska Straße, der dieses in Flammen setzte. Er schoss auf die Menschen, die versuchten aus dem Haus zu fliehen. Am 27. Juni wiederholte er die Tat – diesmal setzte er ein Gebäude in der Siedlung Bikavac in Brand – 60 Menschen starben in dem Inferno.

Im Drina-Tal wurden im Krieg laut dem bosnischen Totenbuch insgesamt 28.135 Menschen getötet
Foto: Adelheid Wölfl

"Entartete Slawen"

Tschetniks wie Lukić behaupteten, dass alle Serben das Recht hätten, in einem Staat zu leben und sie forderten, dass alle Gebiete in denen sie lebten, an diesen Staat angeschlossen werden sollten. "Der Haken dabei war, dass der resultierende Staat nach Beendigung der "ethnischen Säuberung" (die den Massenmord oder die Vertreibung von Einheimischen und die Zerstörung ihrer kulturellen Denkmäler einschloss) ein fast ausschließlich von Serben bewohnter Staat sein würde", schreibt die Politologin Sabrina Ramet in ihrem Buch "Die drei Jugoslawien". Sie hatten die Vorstellung, dass ein Zusammenleben wegen "unvereinbarer zivilisatorischer Gegensätze" nicht möglich sei. Die damalige Vizepräsidentin der Republika Srpska, Biljana Plavšić meinte etwa: "Muslime sind entartete Slawen. Als Biologin weiß ich das."

Frau Kečanović ist auch heuer wieder mit hunderten anderen zum Gedenken an die Toten nach Višegrad gekommen. Doch die Busse mit den Angehörigen der Opfer müssen zehn Kilometer vor der Stadt warten, weil dort gerade der 25. Jahrestag der Gründung der Višegrader Brigade der Armee der Republika Srpska gefeiert wird. Vor dem Denkmal für die "Verteidiger der Republika Srpska" legen Kinder in Folklorekostümen Kränze nieder. Zwei Priester schwenken Weihrauchkesseln und besingen die Višegrader Brigade.

Immer wieder provozieren Menschen mit serbischen Flaggen während der Gedenkfeier.
Foto: Adelheid Wölfl

"Genetisch stärker als Muslime"

Dann tritt der ehemalige Kommandant Luka Dragićević ans Mikrofon. Seine Hände zittern. Er schiebt die Schuld am Krieg den Muslimen in die Schuhe. Gegen Dragićević wird gerade ein Prozess wegen Kriegsverbrechen geführt. Er verfasste damals auch ein Pamphlet, das er an seine Soldaten verteilte. Darin stand, dass die Serben "genetisch stärker, besser aussehend und intelligenter" seien als die Muslime. Bis heute steht Dragićević zu diesen Aussagen.

Auch der Bürgermeister würdigt die Višegrader Brigade. Als eine halbe Stunde später die Opferverbände der Muslime auf der Osmanischen Brücke Rosen für ihre ermordeten Angehörigen ins Wasser fallen lassen, ist kein Vertreter der Stadt anwesend. Auf dem muslimischen Friedhof oberhalb der Stadt, wo an diesem Samstag Überreste eines Opfers der ethnischen Säuberungen aus dem Jahr 1992 begraben werden, steht ein Denkmal. Das Wort "Genozid" hat die Stadtverwaltung aber mit einem Schleifapparat aus dem Stein herausmeißeln lassen. Irgendjemand hat mit einem dicken schwarzen Filzstift den Begriff aber wieder darüber gemalt.

Provokationen während der Gedenkfeier

Auf der Brücke wird indes der Toten gedacht. Ein Imam singt. Die Angehörigen der Opfer halten ihre geöffneten Hände vor sich. Das Gedenken wird jedoch durch lautes Hupen gestört. Hochzeitsgesellschaften fahren durch die Stadt und halten Fahnen der Republik Serbien aus den Autos.

"Sie provozieren jedes Jahr, wenn wir hierher kommen", meint die 67-jährige Zemka Hajla. "Wieso müssen sie gerade an diesem Tag laute Musik spielen und ihre Hochzeiten feiern?", fragt sie. Frau Hajla kommt aus einem Dorf in der Nähe von Višegrad. Vor 25 Jahren, als ihr Haus angezündet wurde, versteckte sie sich mit ihrer Familie vier Monate lang in den Wäldern. Ihr Sohn und ihr Bruder verschwanden. "Von meinem Sohn wurde später nur die Hand gefunden. Wir konnten nur die Hand begraben", erzählt sie.

Erinnerung an interkonfessionelle Existenz vernichten

In den Städten an der Drina wurden in dieser Zeit auch die Moscheen zerstört. Die Erinnerung an eine interkonfessionelle Koexistenz sollte vernichtet werden. "Den Bewohnern von Dörfern, die gesäubert werden sollten, wurden in der Regel 20 Minuten gewährt, um den Ort zu verlassen, sonst würden sie getötet", schreibt Ramet. Nachdem die Männer getötet worden waren, wurden die Frauen und Mädchen systematisch vergewaltigt. Das Hotel Vilina Vlas oberhalb von Višegrad, wo Lukić sein Quartier bezogen hatte, wurde zum Ort der Folter für diese Frauen. "Ziel war es, den Glauben an das mögliche Zusammenleben verschiedener Völker zu zerstören und den neuen Glauben an den Primat der ethnischen Gemeinschaft zu etablieren", so Ramet.

Die meisten Leute, die überlebt haben, sind nicht an die Drina zurückgekehrt. Viele haben ihre Grundstücke verkauft. "Wir können nicht mehr hier leben", sagt Kečanović, die nun in der Nähe von Sarajevo lebt. "Wir können ja auch nicht mehr in der Drina baden." (Adelheid Wölfl aus Višegrad, 27.5.2017)