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Foto: Reuters/Yates

Die Arena von Manchester liegt verkehrsgünstig an der Ringstraße, die den Kern der alten Industriestadt umschließt, und direkt neben einem Bahnhof für Regionalzüge. Seit gut 20 Jahren ist die zweitgrößte Mehrzweckhalle Europas mit ihren 21.000 Plätzen ein Sehnsuchtsort für Sport- und Musikfans aus ganz Großbritannien.

Am Montag Abend, einem sonnigen, warmen Frühlingstag, erfüllt sich für Tausende junger Briten ein langgehegter Wunsch: Ihr Idol Ariana Grande gastiert in Manchester, das Konzert ist seit Wochen ausverkauft. Aus dem ganzen Land strömen die "Arianaters" zusammen, viele Mädchen im Teenager-Alter kommen in der Begleitung von Müttern und Vätern. Stundenlang begeistern sie sich an den Melodien des 23-jährigen US-Weltstars. Als Grande ihre letzte Zugabe spielt, ist es draußen längst Nacht geworden.

Selbstmordattentäter

In der Halle gehen die Lichter an. Eilig streben viele Erwachsenen zu den Ausgängen, ziehen ihre widerstrebenden Kinder hinter sich her: Am nächsten Tag ist Schule, die Fans müssen ins Bett. Zu Tausenden strömen die Menschen in Richtung des Bahnhofs Manchester Victoria, im Foyer bilden sich Schlangen vor den Verkaufsständen mit Postern, CDs und Fanartikeln – da zerreißt gegen 22.30 Uhr ein gewaltiger Knall die fröhliche Atmosphäre. "Das ganze Gebäude erzitterte", berichtet später Joanne Johnson der BBC. "Irgendwie wusste man gleich: Das war kein Lautsprecher-Kurzschluss."

Der Eindruck bestätigt sich auf schreckliche Weise. Offenbar, so legen es die ersten Ermittlungen nahe, war es einem einzelnen Mann gelungen, an allen Kontrollen vorbei in die Halle zu kommen – genau zu dem Zeitpunkt, als ihm hunderte Konzertbesucher entgegenströmen. Der Täter zündet seine selbstgebaute Bombe und reißt viele in seiner Umgebung mit in den Tod. Polizeipräsident Ian Hopkins bestätigt am Mittwoch morgen: 22 Menschen sind tot, 59 teils lebensgefährlich Verletzte liegen in acht Krankenhäusern des Großraumes Manchester.

Totales Chaos

Hopkins' bleiche Miene spiegelt wider, was Polizeibeamte, Sanitäter und Notärzte in der Nacht zum Mittwoch erlebt haben. Bei der Polizei geht um 22.33 Uhr der erste Notruf ein, binnen weniger Minuten folgen 240 Anrufe. Die Beamten sind wenige Minuten später vor Ort und lösen Großalarm aus. Der Anblick, der sich ihnen bietet, bestätigt die schlimmsten Befürchtungen: Im Foyer der Arena liegen Dutzende von Verletzten, viele mit Metallsplittern in den Beinen. Ihre Schreie gellen den Helfern in den Ohren. Panikartig rennen Tausende von Menschen in die Nacht hinaus. "Weg vom Gebäude, weg vom Gebäude", rufen die Polizeibeamten – niemand kann ja wissen, ob sich nicht weitere Attentäter vor Ort befinden. "Viele Opfer mit schlimmen Verletzungen", sieht Augenzeugin Johnson, "völlig aufgelöste Kinder. Totales Chaos."

Während Dutzende bewaffneter Polizisten sowie Feuerwehrleute mit schwerem Spezialgerät die Halle durchkämmen, irren draußen viele Kinder weinend durch die unbekannte Stadt: Im Chaos der Flucht haben sie Eltern, Geschwister, Freunde verloren. Umliegende Hotels öffnen ihre Türen, nehmen die Verlorenen auf. Privatleute kommen an die Polizeisperren, bieten verzweifelten Eltern Hilfe an, Mobiltelefone, einen heißen Tee, eine Unterkunft für die Nacht. Der Attentäter habe versucht, die Gesellschaft zu spalten, sagt am Morgen Manchesters frischgewählter Bürgermeister Andrew Burnham: "Stattdessen haben viele Menschen ihre Hilfsbereitschaft bewiesen. Das war die bestmögliche Reaktion – der Geist einer großartigen Stadt."

Kehrtwende

In der Hauptstadt London verständigen sich kurze Zeit nach dem Eintreffen der Schreckensnachrichten aus Manchester die Politiker auf eine Unterbrechung des Wahlkampfes. Gut zwei Wochen vor der Unterhauswahl vom 8. Juni hat Premierministerin Theresa May am Montag einen Kernpunkt ihres Wahlprogramms "verdeutlicht", wie die Konservative sagt. Medien und Opposition sprechen von einer "kompletten Kehrtwende", in Interviews wirkt die Regierungschefin unsicher und angeschlagen. Dabei hat sie doch Werbung gemacht mit dem Slogan von ihrer "starken und stabilen Führung", hat den Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn persönlich als "schwach" angegriffen, immer wieder auf dessen Sympathien für die mittlerweile aufgelöste irische Terrortruppe IRA hingewiesen.

Mit einem Schlag enden die Angriffe. May und Corbyn ebenso wie die Vorsitzenden der kleineren Parteien sprechen von ihrer Erschütterung, vom gemeinsamen Kampf gegen den mutmaßlich islamistischen Terrorismus, der Manchester heimgesucht hat. Aus aller Welt treffen Solidaritätserklärungen ein, die deutsche Kanzlerin Angela Merkels, Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron, der russische Präsident Wladimir Putin kondolieren. Alle drei Länder waren in jüngster Zeit Opfer terroristischer Anschläge. US-Präsident Donald Trump schickt sein Beileid aus Bethlehem: Der Täter sei "ein bösartiger Versager".

Anschlagsserie

Am Mittwoch Vormittag leitet die Premierministerin den Krisenstab Cobra. Welche Konsequenzen muss Großbritannien ziehen aus den Ereignissen von Manchester? Der Massenmord kam zwei Monate nach der Terrorattacke von Westminster (fünf Tote), auf den Tag genau vier Jahre nach dem Terrormord an dem unbewaffneten Soldaten Lee Rigby. Die letzte Bombenattacke mit vielen Toten liegt länger zurück: Im Juli 2005 ermordeten vier Selbstmord-Attentäter in der Londoner U-Bahn und einem Doppeldecker-Bus 52 Menschen, verstümmelten und verletzten weitere Hunderte. Stets waren islamistische Extremisten für die Taten verantwortlich. Und stets reagierte die Zivilgesellschaft, wie es am Mittwoch morgen auch der anglikanische Bischof von Manchester beschwört: "Wir lassen uns von Terroristen nicht das Leben bestimmen. Und unsere muslimischen Mitbürger gehören zu unserer Gesellschaft. Gemeinsam werden wir mit Schlimmem fertig werden." (Sebastian Borger aus London, 23.5.2017)