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Ritu während eines Modeshootings im Jahr 2014. "Ich bin eine Kämpferin", sagt sie über sich selbst.

Foto: AP Photo/Rahul Saharan

Wäre Ritu früher geboren worden, wäre ihr Gesicht wahrscheinlich nicht entstellt. Doch die 23-jährige Inderin ist das jüngste von fünf Kindern. Ihre Angreifer dachten, dass durch sie den Eltern der größte Schmerz bereitet werden könnte. Es war ziemlich genau vor fünf Jahren, als Ritu von zwei Männern auf einem Moped mit Säure bespritzt worden war. Es geschah auf einem belebten Marktplatz im Norden Indiens, doch die Marktstandbesitzer bildeten nur eine Traube um das Opfer. Zur Hilfe kam erst ihr vorbeifahrender älterer Bruder.

Fast zwei Monate verbrachte Ritu im Spital. Niemand erzählte ihr, dass 90 Prozent ihres Gesichts verätzt worden waren. Doch das musste auch niemand, sie sah es in den Gesichtern ihrer Familie. Das Mädchen verlor das rechte Auge, das linke Auge kann sie nicht lange geöffnet lassen. Später stellte sich heraus, dass die Männer von ihrer Tante engagiert worden waren. Es ging um einen Familienstreit.

Ritu: "Ich bin eine Kämpferin"

"Die Schmerzen waren furchtbar", erzählt Ritu dem STANDARD. "Jedes Mal, wenn meine Bandagen getauscht werden mussten, steigerten sich die Schmerzen noch." Als Opfer hatte sich die 23-Jährige lange nicht gefühlt. Ihre Familie habe sie beschützt, ihr Engagement in der Hilfsorganisation "Stop Acid Attacks" habe sie gestärkt. Erst als das mediale Interesse größer wurde, fühlte sie den Opfer-Stempel. "Doch für mich gibt es keinen Grund mehr, mich als Opfer zu fühlen", sagt sie. "Ich bin eine Kämpferin. Ich habe überlebt." Ihre Angreifer wurden zu zehn Jahren Haft bzw. lebenslangen Haftstrafen verurteilt.

Behindertengesetz

Die Einstellung zu Säureangriffen hat sich in der indischen Öffentlichkeit verändert, ist sich Colin Gonsalves, Gründer der NGO "Human Rights Law Network" in Neu-Delhi, sicher. Vor einigen Jahren hätte man die Verbrechen noch unter den Teppich gekehrt, doch nun zählen die Attacken als Mordversuch. Vor kurzem wurden Opfer von Säureattacken auch in das Behindertengesetz mit aufgenommen. Dadurch erhalten sie Anspruch auf eine finanzielle Entschädigung und staatliche Posten, die für Behinderte reserviert sind.

Für Gonsalves geht das Gesetz aber nicht weit genug. "Man kann Säureopfer nicht mit Behinderten gleichsetzen", sagt der Anwalt und Berater am Obersten Gericht Indiens. Opfer von Säureattacken bräuchten psychologische Betreuung, umfangreiche und mehrmalige Operationen und oft eine sichere Unterkunft, um von den Angreifern abgeschirmt zu werden.

Vor allem die finanziellen Entschädigungen sind für den Menschenrechtler zu gering: Maximal 1,5 Millionen Rupien oder rund 21.000 Euro stehen den Opfern einmalig zu. Das deckt oft nicht einmal die medizinischen Ausgaben. Außerdem müssen die Finanzhilfen erst vor Gericht erstritten werden, und "dazu braucht es gute Anwälte, die Geld kosten", sagt Gonsalves. Für ihn müssten die medizinischen Behandlungen der Opfer kostenlos werden.

Fehlende Kontrolle

Die Zahl der Säureattacken steigt laut Schätzungen der NGOs in Indien. Das Human Rights Law Network geht davon aus, dass jährlich 700 Personen Opfer der Angriffe werden. 80 Prozent von ihnen sind Frauen. Zwar werden seit 2013 die Bestände an gewissen Säuren landesweit streng kontrolliert, doch sind noch immer viele zu leicht zu bekommen, wie Gonsalves erzählt. Politische Ankündigungen wie kürzlich die von Yogi Adityanath, des Premiers des Bundesstaats Uttar Pradesh, sieht der Menschenrechtsanwalt skeptisch. Adityanath will alle Säurebestände streng überwachen und hohe Strafen für Verstöße einsetzen. "Das ist ein bisschen Show", sagt Gonsalves. Die Überwachung des Verkaufs finde de facto nicht statt.

Was sich im Land aber sicher zum Guten verändert habe, sei die Einstellung zu den Opfern: "Früher hat man die säureverätzten Menschen gemieden", sagt Gonsalves. "Heute werden sie als Helden gesehen." Das sieht auch Ritu: "Manchmal reagieren die Leute komisch auf mich. Aber die meisten Erfahrungen sind positiv." (Bianca Blei, 25.5.2017)