Natürlich ist es super, sagen zu können, Lemawork Ketema nicht bloß zu kennen, sondern mit ihm zu trainieren – weil wir den gleichen Trainer haben. Auch wenn zwischen dem, was "Lema" auf die Straße bringt, und mir Welten liegen.

Lemawork, der Flüchtling, hatte – weil er nicht untätig im Lager rumsitzen wollte/konnte – in den Auwäldern um Korneuburg trainiert und war dort Harald Fritz aufgefallen. Der Rest ist Sportgeschichte: "Lema" rannte, wo er durfte (als Flüchtling ist das nicht so einfach) – und gewann. Unter anderem den ersten Wings for Life World Run. Danach den zweiten. Dann wurde er eingebürgert – und Fritz coacht ihn weiterhin.

Am anderen Ende der Skala bin ich. Nicht nur, aber auch beim Wings for Life Run: Der war am Sonntag – und als ich Lemawork vor dem Start von meinem Plan erzählte, war er beeindruckt: "Respekt – diese Leute verdienen es, vor den Vorhang geholt zu werden."

Thomas Rottenberg

Aber der Reihe nach: Den World Run muss man nicht mehr vorstellen. Heuer fand das Rennen, bei dem weltweit zeitgleich zigtausende Menschen losrennen, um dann von "Catcher Cars" verfolgt und eingeholt zu werden, zum vierten Mal statt. Gelaufen wird zugunsten der "Wings for Life"-Stiftung. Dass die im Red-Bull-Universum zu Hause ist, ist bekannt. Mit dem Backing der Dose werden 100 Prozent der Startgelder in die Rückenmarkforschung weitergegeben – und auch wenn der Konzern problemlos ein Vielfaches dieser Summe spenden könnte, geht es auch um anderes: um Sichtbarkeit. Um Bewusstsein. Etwa dafür, dass behindert nur ist, wer behindert wird.

Auch nicht neu: In Fuschl versteht man viel von Marketing, Netzwerken, PR und der Arbeit mit Testimonials (im Bild: Ex-Miss-Austria Patricia Kaiser).

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So erreicht der Lauf auch "andere" Zielgruppen. Menschen, die sich sonst weder fürs Laufen noch für Behinderte interessieren. Oder Menschen (und Gruppen), die man in Österreich sonst nicht bei Laufevents findet. Christian, der Feuerwehrmann, etwa: In Berlin sah ich beim Marathon einmal einen ganzen Trupp Feuerwehrleute in voller Montur (bis auf die Stiefel). In Österreich noch keinen. Obwohl, erklärte Christian, man hier schon auch laufe: "Wir haben es sogar mit Einsatzstiefeln probiert, aber das ist echt hardcore."

Nebenbei: Die Ausrüstung des Feuerwehrmannes wiegt 25 Kilo. "Zwei Kilo davon macht der Sauerstoff aus." Wie bitte? "Wenn Du die Luft mit 300 bar komprimierst, wiegt sie was. Das spürst du."

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Nochmal nebenbei: In Berlin (aber auch in New York, Boston oder anderswo) sind neben Feuerwehrleuten auch Rollstuhlfahrer in Marathonbewerben gern gesehen. Wien ist da beim City Marathon nach wie vor anders – obwohl der auf fast der gleichen Strecke ausgetragen wird. Bei "Wings for Life" gehören Rollis dazu. Ganz selbstverständlich. So wie sie Teil des Alltags sind. Und niemand hat damit ein Problem: Inklusion ist keine Hexerei. Man muss halt wollen.

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Natürlich ist der World Run auch ein gigantisches Marketingspektakel: Red Bull wirft seine Promisportler ins Rennen – und die betonen, dass sie ihre Startgebühr genauso zahlen wie alle anderen. Wenn Skispringer (im Bild: Andreas Goldberger mit dem Laufblogger Werner "Running Schritti" Schrittwieser), Snowboarder, Mountainbiker, Kletterer oder Werauchimmer hier auf Augenhöhe mitmachen, spürt man das. Neben einem Olympiasieger zu laufen – ihn eventuell sogar hinter sich zu lassen — kann was. Auch wenn der eigentlich kein Läufer ist.

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Das für mich Schöne an Laufevents ist genau diese Offenheit: Während sich die Elite vorne die Kante gibt und mit Leistungen, von denen Menschen wie ich nicht einmal zu träumen wagen, beeindruckt, kann weiter hinten jeder und jede auch sein oder ihr Bestes geben.

Beim World Run wird das Ganze dann eben noch einmal getoppt, weil da zur exakt gleichen Zeit auf der ganzen Welt Läuferinnen und Läufer losrennen – und versuchen, der exakt 30 Minuten später startenden und sie stetig schneller verfolgenden Ziellinie möglichst lange zu entkommen. Heuer war der Start um 13 Uhr (Wiener Zeit).

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Leider hat die Sache einen Haken: Die Startlinie, auf der 13.500 Menschen gleichzeitig, also nebeneinander, losrennen können, gibt es nicht. Im Vorjahr, vom Karlsplatz aus, soll es über 10 Minuten gedauert haben, bis alle im Rennen waren. Die Verfolger starten aber 30 Minuten nach dem Startschuss …

Heuer, am Ring beim Rathaus, hatten die Veranstalter einen breiteren Start versprochen. Das zu überprüfen, war Teil "meines" World-Run-Themas: Ich "startete" aus der eineinhalbten Reihe, stellte mich nach einem Meter an den Streckenrand – und schaute der Masse beim Vorbeirauschen zu: sechs Minuten. Fast alle Läufer hatten lachende Gesichter.

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Auch ich hatte es nicht eilig: Ich wollte gar nicht vorne oder in der Mitte mitrennen – sondern sehen und erleben, wie es am Ende des Feldes zuging: Wer läuft hier? Wie? Warum? Was motiviert die Leute, die es vermutlich nicht einmal rund um den Ring schaffen würden, bevor das Rennen für sie vorbei ist, hier Zeit, Mühe und Geld zu investieren?

Würden sie laufen – oder gehen? Und wie wäre die Stimmung zwischen ihnen? Wäre der letzte Platz – in diesem Lauf also der erste "im" Ziel – etwas, was man vermeiden möchte, oder gibt es Menschen, die die "rote Laterne" mit Plan und Absicht anstreben?

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Lukas Bauernberger, einer der Köpfe der Abwicklung des Events, hatte mir im Vorfeld gesagt, dass im Vorjahr jemand nach 700 Metern eingeholt worden sei. Vermutlich mit dieser Absicht.

Ganz so absichtlich suchte ich es nicht: Ein bisserl Ehrgeiz sollte dabei sein. Als Jürgen, der junge Mann im Rollstuhl, an mir vorbeifuhr – und später, beim Ringturm, mein Angebot, ihn ein wenig zu schieben, höflich, aber eindeutig zurückwies, rief mir jemand zu, dass auch heuer ein oder zwei Teilnehmer auf der Startlinie geblieben seien: Ihr gutes Recht – aber nicht mein Thema.

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Knapp vor Jürgen waren Samantha und ihre Freundin unterwegs: Samantha ist im 9., ihre Begleiterin im 6. Monat schwanger. Sie waren mir schon auf der Startlinie aufgefallen – auch weil ich ein wenig besorgt gewesen war, als da zig Ehrgeizige an den beiden (Hoch-)Schwangeren, die da seelenruhig unterwegs waren, teils wirklich knapp vorbeigesprintet waren. "Viel Zeit habe ich wirklich nicht mehr", lachte Samantha, "aber ich gehe mal davon aus, dass es sich heute mit dem Lauf noch ausgeht – die Geburtsklinik wäre nämlich in der anderen Richtung …"

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Knapp vor den beiden schwangeren Frauen war ein Pulk von Damen, die schon einen Schritt weiter waren: "Wir sind heute ungefähr 25 Mütter mit Kinderwägen", erzählte Franziska von der "Running Clinic", korrigierte sich aber im nächsten Moment: "Ein Papa ist auch dabei. Und es ist toll, dass wir hier ganz selbstverständlich mitlaufen können – jede in ihrem Tempo."

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Wirklich schnell war hier niemand unterwegs. Aber doch zügig. Und vor allem: mit allerbester Laue. Niemand hatte es eilig. Man scherzte, plauderte, unterhielt sich – motivierte einander gegenseitig – und gab aufeinander Acht: Mit einem Kind an der Hand im "echten" Pulk eines Laufes unterwegs zu sein wäre, abgesehen vom Tempo, Wahnsinn. Aber hier passte es perfekt: 15 Minuten nach dem Start waren wir erst knapp vor dem Ringturm. Die Elite und die Flinken hatten da schon vier, vielleicht knappe fünf Kilometer in den Beinen. Aber: Wie oft hat man als Vater oder Mutter die Chance, so zu laufen? Die Grenze zwischen Wettkampf, Spiel und Spaziergang so fließend zu gestalten? Eben.

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Dennoch: Ich war zu weit vorne. Und ließ mich zurückfallen. Genauer: Spazierte ein Stück zurück – und traf Helmut. Hinter ihm kamen zwar noch ein paar Teilnehmer, aber Helmut war in einem Tempo unterwegs, das ihn zu einem "Favoriten" für das Stockerl der "regulär" Eingeholten machte.

Helmut schwitzte, keuchte und war glücklich: Er sei, sagte er mir, mehr als nur zufrieden, überhaupt hier zu sein. Allein die Tatsache, dass er laufen oder gehen könne, sei Grund zum Jubeln. "Ich war praktisch schon tot. Lag auf der Intensivstation. Konnte danach nicht einmal stehen." Wieso? 1.000 Gründe, 1.000 Faktoren. Fast alle lassen sich im Nachhinein auf "zu wenig Bewegung, falsche Ernährung und eine ungesunde Lebensführung" verdichten. Wenn man Pech hat, macht es dann eines Tages "Zack!".

Der Weg zurück, vom Liegen zum Stehen, vom Stehen zum Rollator, vom Rollator zur Gehhilfe, von der Gehhilfe zum Gehen ist hart. Braucht Willen, Energie, Zeit und Kraft. Nur: Da ist keiner, der applaudiert.

Thomas Rottenberg

Wir waren – gerade am Ringturm vorbei – zu einer kleinen Reisegruppe geworden. Neben Helmut war da noch ein junger Mann, der an einer Verletzung laborierte. "Ich darf nicht laufen – aber das geht vorbei."

Da waren auch noch Sophia, Birgit und Gabi.

Birgit strahlte fast noch mehr als Helmut: "Die Hüfte hält. Ich habe vor fünf Wochen ein neues Hüftgelenk bekommen – und kann hier mitgehen. Das ist wunderschön. Einfach großartig. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet?" Eher nicht. Aber Birgits Augen sprachen Bände. Wie weit sie kommen wolle? Darüber habe sie sich keinen einzigen Gedanken gemacht: "Ich bin hier!"

Auch Gabi und Sophia – Mutter und Tochter – waren vor allem glücklich, es hierher geschafft zu haben. "Ich habe mich erst vor ein paar Tagen entschlossen, doch mitzumachen. Das ist ein super Erfolg." Sophia, die Tochter, nahm mich kurz zur Seite. "Meine Mutter hat MS." Ich legte den Kopf fragend schief. "Nein, das ist schon okay. Das kannst du ruhig schreiben: Wir sind stolz, hier zu sein – und für Menschen zu laufen, die es nicht können."

Ich musste schlucken. Gänsehaut.

Thomas Rottenberg

Sollten Sie "meine" Gruppe am Ende der "World Run"-Ergebnisliste suchen, werden sie sie vermutlich nicht an den allerallerletzten Plätzen finden. Denn es gab auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die aus anderen Gründen vor uns aus dem Rennen ausstiegen: Den Eissalon am Schwedenplatz hatte ich kurz nach dem Start etliche Male als Ziel genannt bekommen. Als wir daran vorbeikamen, sah ich mehrere Menschen mit Startnummern dorthin schlendern – aber auch einige, die am Straßenrand warteten: "Wir warten noch auf das Catcher Car, um ein Ergebnis zu haben – dann gibt es Eis." Das ist natürlich auch ein legitimer Zugang – und war (zu diesem Zeitpunkt) auch vom Wetter her gut nachvollziehbar.

Thomas Rottenberg

Doch wir wanderten weiter. Jeder in seinem Tempo: Gabi war mit dem jungen Mann deutlich vor uns, Helmut und ich bogen vom Kai auf den Ring – und als Sophia und Birgit um die Kurve kamen, war da plötzlich ein Kamera-Motorrad: Das Catcher Car würde also auch in ein paar Sekunden vorbeikommen – ob die Damen genau dann für ein Interview Zeit hätten? Na klar.

Helmut zwinkerte mir fast verschwörerhaft zu: Ein paar Meter mehr würde er so herausholen können.

Thomas Rottenberg

Aber es waren wirklich nur ein paar Meter. Und darum, irgendjemanden zu besiegen oder zu schlagen, war es niemandem gegangen: Wir waren knapp über zweieinhalb Kilometer weit gekommen.

Das ist eine Distanz, über die die meisten Menschen in meinem Umfeld nicht einmal nachdenken. Die sie auch schneller als in rund 40 Minuten zurücklegen.

Nur: Das ist bedeutungslos. Weil es für Helmut, Gabi und Birgit – und für viele andere Menschen – um etwas ganz anderes gegangen war oder auch noch ging. Um mehr als Zeit, Platzierung, Vergleich oder Wettkampf.

Um mehr als Laufen.

Es gibt Dinge, die weiß man zwar, begreift sie aber erst, wenn man sie spürt. Ich spürte. Und war stolz, genau das hier erleben zu dürfen.

Thomas Rottenberg

Beim Luegerplatz holte ich dann Jürgen ein. Jürgen – der junge Rollstuhlfahrer, der mein Angebot, ihn ein wenig zu schieben, so stolz ausgeschlagen hatte. Auch Jürgen war mittlerweile vom Catcher Car überholt worden. Nun rollte er aus: verschwitzt, erschöpft – aber strahlend.

Er hatte weder meine noch sonst jemandes Hilfe gebraucht. Alles, was er gebraucht hatte, war die Chance zu zeigen, was geht – wenn man will. Wenn man nicht be- oder gehindert wird – oder gar durch ungefragtes Helfen entmündigt wird.

Ich dachte an Lemawork. Der flog jetzt wohl irgendwo vorne dahin. Dass er diesen Lauf gewinnen würde und im globalen Contest Dritter werden würde, wussten zu diesem Zeitpunkt weder er noch ich.

Aber ich hörte seine Stimme. Den Satz, den er mir eine Stunde vor dem Start gesagt hatte: "Diese Menschen sind Helden." (Thomas Rottenberg, 10.5.2017)


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