Diese Aufnahme von 1956 zeigt einen der ersten Kontakte zwischen den Warí und Vertretern der brasilianischen Indianerschutzbehörde.

Foto: Weltmuseum Wien, Fotosammlung

Wien – In vielen indigenen Gesellschaften Amazoniens haben sich kulturelle Strategien im Umgang mit dem Tod etabliert, die uns befremdlich erscheinen. So praktizierten etwa die Warí in Brasilien früher an ihren Verstorbenen kannibalistische Rituale und zerstörten zudem sämtliche Gegenstände, die dem Toten gehört hatten. Beth Conklin, eine internationale Kapazität im Bereich der Anthropologie Amazoniens, beschreibt diese Praktiken als Akte der Anteilnahme, um einerseits den Körper des Verstorbenen in sich aufzunehmen und so vor dem Verrotten in der kalten Erde zu bewahren. Andererseits sollte durch die Vernichtung sämtlicher Besitztümer des Toten die Erinnerung an ihn vermieden und so die überwältigende Trauer auf ein erträgliches Maß begrenzt werden.

Obwohl sich die Begräbnisrituale durch den Einfluss der christlichen Missionare seit Mitte des 20. Jahrhunderts geändert haben, vermied es Conklin, den Warí Fotos von Menschen zu zeigen, die seit ihrem letzten Besuch gestorben waren. Als sie 2011 in Begleitung von Claudia Augustat, Leiterin der Südamerika-Sammlung im Weltmuseum Wien (dem ehemaligen Völkerkundemuseum), wieder nach Amazonien kam, erlebten die beiden Anthropologinnen aber eine Überraschung: Die Warí wollten von sich aus Bilder von ihren verstorbenen Stammesangehörigen sehen.

Im Gepäck hatten die Forscherinnen nicht nur Fotos von Conklins letztem Besuch, sondern auch Bild- und Filmmaterial der früheren Weltmuseums-Direktorin Etta Becker-Donner, das in den 1950er-Jahren im Zuge zweier Reisen nach Amazonien entstanden war. "Wir erlebten hier das faszinierende Beispiel eines tiefgreifenden Kulturwechsels", erinnert sich Claudia Augustat. Unter dem Druck der Missionare war aus einer "Kultur des Vergessens" eine "Kultur des Erinnerns" geworden. Die Warí wollten sogar ein kleines Museum in der Schule einrichten. "Der Wunsch, ihre eigene Geschichte zu rekonstruieren, wurde zu einem wesentlichen Bestandteil im Kampf um ihr kulturelles Überleben und die Entwicklung einer Warí-Identität", so die Ethnologin.

Wie der Religionswissenschafter Jan Assmann betont, ist das kulturelle Gedächtnis unmittelbar mit der Gegenwart verbunden – denn sie formt die Wahrnehmung der Vergangenheit. Um dieses dynamische Element auch in die Museen und Sammlungen zu bringen, müssen die Kuratoren auf Augenhöhe mit den Nachkommen der indigenen Herkunftsgemeinden zusammenarbeiten.

"Ethnologische Museen sehen sich heute nicht mehr als Archive untergegangener oder im Aussterben begriffener Kulturen, sondern als Verwalter eines gemeinsamen kulturellen Erbes", erklärt Claudia Augustat. Wissensträger seien dabei nicht nur die Mitarbeiter der Museen, sondern auch die Vertreter der sogenannten Source-Communities. Ein tieferes Verständnis der Objekte könne nämlich nur aus der Zusammenschau der unterschiedlichen Perspektiven erwachsen.

Moralische Verantwortung

Mittlerweile ist die Kooperation mit indigenen Herkunftsgemeinden für viele Museen eine Selbstverständlichkeit – und dennoch steckt sie noch in den Kinderschuhen. Für die Südamerika-Sammlung im Wiener Weltmuseum unternahm Claudia Augustat 2005 unter dem Motto "Not about them without them" die ersten Schritte in diese Richtung.

An die 6000 Objekte und über 20.000 Fotos umfasst die dortige brasilianische Sammlung, deren Basis die österreichische Brasilien-Mission von 1817 bildet. "Daraus ergeben sich viele Möglichkeiten, verschiedene Gesellschaften Amazoniens in ihrem kulturellen Überlebenskampf zu unterstützen", verweist die Ethnologin auf die moralische Verantwortung der Museen, die im Zuge der postkolonialen Kritik an der bisherigen Museumspraxis verstärkt eingefordert wird.

Kulturelle Revitalisierung

Grundsätzlich sollen beide Seiten von den Ausstellungen profitieren. Deshalb habe das Weltmuseum in den letzten Jahren auch Kooperationen mit und Besuche von indigenen Gruppen organisiert. Mit dem neuen, vom Münchner Ethnologen Wolfgang Kapfhammer konzipierten Projekt "Zurück ins Leben" wollen die Forscher nun einen nachhaltigeren Beitrag zur kulturellen Revitalisierung der Herkunftsgemeinden leisten.

"Wir wollen Vertreter dreier Gruppen nach Wien einladen, um die Sammlungen zu besprechen", sagt Augustat. "Die Ergebnisse sollen dann – als Stimmen der Menschen vor Ort – in die Schausammlungen miteinfließen." Zudem soll untersucht werden, von welchen Maßnahmen die indigenen Gruppen am meisten durch diese Kooperation profitieren könnten. "Neben ihrer fachlichen Bedeutung festigen Projekte wie dieses auch die Identität der indigenen Gruppen, die in Brasilien immer als minderwertig dargestellt wurden und nach wie vor werden", so die Kuratorin.

Zu sehen, dass die eigene Kultur in einem anderen Teil der Welt wertgeschätzt wird, stärkt den Selbstwert und unterstützt damit den Kampf der Indigenen um ihre Rechte. Dass dieses wissenschaftlich und ethisch hochrelevante Projekt noch nicht umgesetzt werden konnte, liegt an der bislang fehlenden Finanzierung. (Doris Griesser, 8.5.2017)