"Haltung schlägt Rhetorik. Hängen bleibt nicht, was man sagt, ohne es zu meinen", sagt Karriereberater Martin Wehrle.

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Seit Jahren beriet ich den Geschäftsführer eines kleinen Auto-Zulieferers. Sein Büro lag am Ende des Flurs, auf dem Weg begegneten mir Mitarbeiter. Sonst sagten sie schlicht "Hallo". Aber heute? Schon die Empfangsdame trällerte: "Genießen Sie Ihren Tag, er kommt nicht wieder!" Auf dem Flur schob ein Lagerarbeiter seinen polternden Wagen an mir vorbei: "Genießen Sie Ihren Tag, er kommt nicht wieder!" Und eine Auszubildende rief über den Gang: "Genießen Sie Ihren Tag, er kommt nicht wieder!"

Ich betrat darauf hin das Büro des Geschäftsführers und sagte schwungvoll: "Genießen Sie Ihren Tag, er kommt nicht wieder!" Freudig überrascht sah er von seinem Computer auf: "Kann es sein, dass Sie im selben Rhetorik-Training wie meine Leute waren?" Er strahlte: "Meine Leute setzen den Inhalt des gestrigen Rhetorik-Seminars um. Wir müssen höflicher mit Kunden umgehen. Ich wollte den Maulfaulen mal eine Lektion in Sprachkunst geben."

Haltung schlägt Rhetorik

Eben diese Lektion war der Fehler. Ein schlichter Gruß, ehrlich gemeint, kommt freundlicher rüber als eine gestelzte Phrase, mühsam antrainiert. Selbst wenn die Mitarbeiter nicht alle dieselbe Begrüßung gewählt hätten (eine besondere Empfehlung des Seminarleiters): Niemand schätzt aufgesetzte Rhetorik.

Fast alle Smalltalk-Trainings, Verkaufsschulungen oder Flirtkurse leiden an einem unheilbaren Mangel: Tausende von Menschen, leise und laute, zarte und grobe, bekommen dieselben Ratschläge übergestülpt. Man empfiehlt ihnen bestimmte Wendungen, um Gespräche zu eröffnen, bestimmte Gesten, um Lebendigkeit zu signalisieren. Und sogar das Lächeln wird ihnen wie eine Maske aufgesetzt.

Aus Individuen werden Pappfiguren mit rhetorischem Anstrich. Sie sagen in einer Situation, was man in dieser Situation sagt. Und weil sie nicht meinen, was sie sagen, fühlen sich die Angesprochenen nicht wirklich gemeint.

Persönlichkeit ist primär

Haltung schlägt Rhetorik. Hängen bleibt nicht, was man sagt, ohne es zu meinen – sondern was man meint, ohne es zu sagen. Das Empfinden ist eine kräftige Grundfarbe; sie schimmert durch unter dem dünnen Rhetorik-Anstrich. Das gilt beim Smalltalk und in jeder Situation, in der man mit Menschen spricht.

Der Führungs- und Dialektik-Experte Rupert Lay schreibt treffend: "Techniken sind sekundär. Die Persönlichkeit ist das Primäre (…) Für das Überzeugungsvermögen ist die Überzeugungskraft wichtiger als die Beherrschung von Überzeugungstechniken! (…) Man muss schon ziemlich naiv oder ziemlich geldgierig sein, wenn man verspricht, Dialektik zu lehren und nur Techniken vermittelt."

Freundliche Smalltalk-Wendungen werden schnell als Desinteresse enttarnt, wenn sie nicht zu einem passen. Die perfekten Rednergesten kommen als hilfloses Rudern rüber, die Merkel-Raute wird ausgelacht. Und das beste Argument wird als Notbehelf durchschaut, wenn es aus dem Rhetorik-Ratgeber und nicht von Herzen kommt.

Was passt zu einem?

Jede Lücke zwischen Ihrer Persönlichkeit und Ihrer Rhetorik ist ein Nistplatz für Zweifel. Zurückhaltende Menschen tun gut daran, nicht fremden Ratschlägen, sondern ihrem eigenen Wunsch nach Stimmigkeit zu folgen. Ungelenke Worte können, wenn echt, mehr als aalglatte Rhetorik bewirken. Und ehrliches Schweigen dient einer Beziehung mehr als ein aufgesetztes Reden.

Es gilt also zu prüfen, was wirklich zu einem passt: Welche Smalltalk-Einstiege gehen leicht über die Lippen? Welches Maß an Sichtbarkeit, etwa in einem Meeting, ist noch angenehm? Wie viel Redner-Rhetorik kann man mit auf die Bühne nehmen, ohne zum Schauspieler zu werden?

"Genießen Sie Ihren Tag, er kommt nicht wieder": Schon bei der Empfangsdame hatte ich gespürt, dass der Satz eine Phrase war: mündlich statt herzlich. Ebenso künstlich hatten der Versandarbeiter und die Auszubildende auf mich gewirkt. Vier Wochen später besuchte ich den Autozulieferer erneut. Alle sagten wieder schlicht "Hallo". Der rhetorische Anstrich war abgeplatzt, die Grundfarbe durchgekommen. Und ich genoss meinen Tag – weil’s mir keiner mehr wünschte. (Martin Wehrle, 5.5.2017)