Mit Van der Bellen argumentiert ein dezidiert agnostischer Bundespräsident vehement für das Recht auf religiöse Selbstbestimmung und Äußerung.

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Der Kopftuchsager des Bundespräsidenten hat in den vergangenen Tagen zu heftigen Debatten geführt. Erschreckend war und ist dabei vor allem die offensichtliche, aber doch vehement ignorierte Verfälschung, Verkürzung und Vermischung verschiedener Themen, in ihrer Banalität an die Spitze getrieben unter anderem vom steirischen FPÖ-Landesparteiobman Mario Kunasek, der einen brachial gekürzten Ausschnitt einer Diskussionsveranstaltung online stellte: Das Video beginnt und endet mitten im Satz, im Hintergrund wird der Ruf eines Muezzins eingespielt. Die Folge: Wütende Parolen von Facebook-Usern – allerdings gegen den Präsidenten. Keiner fühlt sich um zumindest einen Teil der Information und den Kontext der Aussagen betrogen oder von den Hintergrundgeräuschen irritiert.

Auf dieser Mikroebene einer Gesamtaussage baut sich in weiterer Folge eine ganze Diskussion auf, in die mich meine bisher vermeintlich so gutmenschliche Facebook-Blase hineinzieht: Kulturrelativismus, Sexismus, Unterdrückung der Frau – das alles würde Alexander Van der Bellen damit fördern. Es scheint symptomatisch für den Umgang mit Argumenten und Positionen zu sein, dass auch hier der Kontext gekappt wurde: Diskutiert wird fortan vor allem über das, was Van der Bellen nicht gesagt hat – und auch gar nicht gefragt wurde. Nicht zu vergessen wäre schließlich auch, dass er doch eher Solidarität mit verfolgten Christinnen und Christen einfordern solle, diese seien uns und unserer Kultur doch viel näher. Und dann auch noch ein verharmlosender NS-Vergleich – das ist wirklich zu viel!

Kann Solidarität verwerflich sein?

Es sind vor allem Bekannte aus dem christlichen Milieu, die so argumentieren – Intellektuelle, theologisch versiert und entsprechend sozialisiert. Der Vorwurf, dem ich mich in der Diskussion stellen muss, ist bekannt: Kulturrelativismus, Realitätsverweigerung, Gutmenschentum. Vielleicht ist das der Triggerpunkt, der mich als Theologen in die Diskussion stößt: Ich will es nicht unwidersprochen auf dem Christentum sitzen lassen, dass Solidarität etwas Teilbares, Zweifelhaftes oder gar Verwerfliches sein könnte. Außerdem: Da argumentiert der höchste Agnostiker des Staates zutiefst der christlichen Botschaft von Solidarität entsprechend – und alle, die deren Fahnen ansonsten besonders hochhalten, laufen schreiend im Kreis. Wie kommt das?

Religiöse Freiheit – eine Doppelmoral?

Seit Jahrzehnten sehen einige christliche Kreise das jüdisch-christliche Abendland bedroht – von der muslimischen Zuwanderung genauso wie von der inneren Schwäche, die sich in der schleichenden Laisierung des Alltags zeigt. Das Interessante daran: Mit Van der Bellen argumentiert nun ein dezidiert agnostischer Bundespräsident vehement für das Recht auf religiöse Selbstbestimmung und Äußerung. Er sieht es als große Leistung einer freien Demokratie, dass jeder und jede seine eigene Kultur und Religion leben kann, solange man damit niemand anderen einschränkt.

Gerade jene Christinnen und Christen, die aktuell in Österreich und ganz Europa den Untergang des christlichen Abendlandes herandämmern sehen, sich vor schwindenden Kreuzen in Schulklassen und fehlenden religiösen Schwurformeln fürchten, beziehen hingegen massiv Position gegen den Schutz, den ihnen der oberste Mann im Staat eigentlich zuspricht: Das Recht auf ein öffentliches, freies Ausüben der eigenen Religion und das Recht darauf, sich so zu kleiden, wie man will – auch religiös-symbolisch. Eigentlich ist das ein Widerspruch in sich – oder eine klassische Doppelmoral.

Wenn Grundhaltungen provozieren

Vielleicht ist es ja auch ein direktes Symptom für den befürchteten Untergang des Abendlandes, dass Grundhaltungen wie die Solidarität über kulturelle, soziale und religiöse Grenzen hinweg auch den Gläubigen immer fremder werden und am Ende sogar krampfartige Proteste provozieren. Wahrscheinlich wird also eines Tages noch die Zeit kommen, wo man Agnostiker wird bitten müssen, sich mit jenen solidarisch zu zeigen, die ihr Christentum nicht nur zeigen, sondern auch leben wollen. (Florian Bachofner-Mayr, 2.5.2017)