Wien – "Was sind Sie von Beruf?", will Richter Wolfgang Etl vom Angeklagten wissen. "Musiker", lautet die Antwort von Semin A., die er dann allerdings einschränken muss. Denn derzeit lebt er von der Arbeitslosenunterstützung. "Wenn man selbstständig ist, ist es ein Beruf", verrät der 26-Jährige. "Und welche Musikrichtung machen Sie?", interessiert Etl noch. "Deutscher Pop", lautet die Antwort.

Von der im Saal anwesenden Schulklasse kennt zwar niemand seinen Namen, tatsächlich werden seine Videos im Internet tausende Male angeklickt, er tritt live auf, auch einen Preis hat er schon gewonnen. Was ihn nicht davor bewahrt, nun mit einer Anklage wegen schwerer Körperverletzung, für die ihm sechs Monate bis fünf Jahre Haft drohen, hier zu sitzen.

Drei einschlägige Vorstrafen

In zwei Fällen soll der gebürtige Wiener aus nichtigem Grund ausgerastet sein. Nicht zum ersten Mal. "Haben Sie Vorstrafen?", fragt ihn Etl zu Beginn. "Ich bin seit sechs Jahren unbescholten", versucht es der Angeklagte. "Die Strafregisterauskunft verrät mir was anderes", entgegnet der Richter. Zwischen 2008 und 2012 hat sich A. vier Vorverurteilungen erarbeitet, drei davon sind einschlägig.

Geständig ist er zu den Anklagepunkten nur teilweise. Dass er am 7. Dezember Franz T. an der Kassa eines Modegeschäfts ins Gesicht geschlagen hat, gibt er zu. Aber: "Ich habe mich bedrängt gefühlt." Er habe gerade an der Bankomatkassa gezahlt, der 62-Jährige sei ihm zu nahe gestanden.

"Ich habe ihn höflich gebeten, ein wenig wegzugehen." Das soll der Pensionist nicht gemacht, stattdessen gestänkert haben. "Er hat dann die Hand gehoben, ich hatte Angst vor einem Angriff. Erst habe ich beide Hände vor mein Gesicht gehalten, dann mit der linken Faust in sein Gesicht geschlagen."

Knochenbrüche im Gesicht

Was nicht ganz stimmen kann, wie der medizinische Sachverständige Christian Reiter in seinem Gutachten erläutert. Denn T. hat einen Kiefer- und einen Jochbeinbruch erlitten, da beide Gesichtshälften betroffen sind, müssen es mindestens zwei Schläge gewesen sein, folgert der Experte.

Der Betroffene ist, wie es selbst Staatsanwältin Sabine Rudas-Tschinkel in ihrem Schlussplädoyer ausdrückt, kein besonders guter Zeuge. Er bejaht quasi jede Frage, auch wenn er sich dadurch selbst widerspricht. In einer Version ist er quasi grundlos attackiert worden, in einer anderen habe es doch zunächst ein Wortgefecht gegeben. Auf Nachbohren des Verteidigers kann er nicht einmal ausschließen, die Hand erhoben zu haben.

90-Jährige umgerempelt

Der Angeklagte bestreitet, dass er nach der Attacke auf T. geflohen sei und eine 90-jährige Kundin umgerempelt habe, die sich durch den Sturz eine Schädelprellung zuzog. "Ich habe gezahlt und bin gegangen. Da war keine alte Frau." Vielleicht habe Herr T. sie beim Zurücktaumeln umgestoßen, mutmaßt er. Warum das weibliche Opfer durchaus stringent schildert, dass sie von ihm einen Stoß bekommen habe, kann er sich nicht erklären.

Noch unverständlicher ist ihm der erste Anklagepunkt. Er soll Martin S., einem Bekannten, am 11. November einen derartig heftigen Stoß gegen die Brust versetzt haben, dass dieser nach hinten vom Gehsteig auf die Straße fiel. Fast ungebremst – im Spital wurden eine Gehirnblutung, Platzwunden, Prellungen festgestellt. Der Sturz führte auch dazu, dass er auf dem linken Ohr praktisch taub ist.

Keine Erklärung für Sturz

A. schildert den Vorfall so: "Wir sind auf dem Gehsteig gestanden und haben eine Zigarette geraucht. Ich musste heim. Als ich über die Straße gegangen bin, habe ich einen Schrei gehört, da ist der Martin plötzlich auf dem Boden gelegen." Wie er umgefallen ist, kann sich A. nicht erklären. "Ich bin dann zurück und habe ihm aufgeholfen. Er hat gesagt, es ist alles in Ordnung." Etl wundert das, er zeigt dem Angeklagten ein Foto des Verletzten, das von der Polizei aufgenommen worden ist. Darauf ist er mit blutigem Gesicht zu sehen.

Dass ein unbeteiligter Zeuge, der in seinem Auto an der Kreuzung wartete, aussagt, A. habe seinen Bekannten umgestoßen und ihn dann bald im Stich gelassen, ist für den Angeklagten neuerlich schleierhaft.

"Ist auch über Cannabis gesprochen worden?", will der Richter noch wissen. "Ja, aber das war nur ein kurzes Thema." In einem Schreiben an die Polizei hat A. noch behauptet, S. habe ihm das Rauschmittel verkaufen wollen, was er abgelehnt habe. "Warum sagen Sie das jetzt nicht mehr?", wundert sich Etl. "Ich will ihn nicht belasten."

Vater weg, Mutter überfordert

"Wenn ich mir Ihre Vorstrafen anschaue – sie neigen bei nichtigen Anlässen immer wieder zu Gewalt ..." – "Ich bin ohne Vater aufgewachsen, meine Mutter war überfordert. Dann habe ich die falschen Freunde kennengelernt, ich war immer der Jüngste", entschuldigt sich der Angeklagte.

"Und wie wollen Sie dann aus diesem Teufelskreis kommen?" – "Ich habe 2012 meine Freundin kennengelernt, seit damals ist es anders." Gemeinsam haben sie ein 19 Monate altes Kind, in wenigen Tagen ist der Geburtstermin für das zweite. In seinem Schlusswort hat er daher noch eine zweite Version, um einen Gesinnungswandel zu verdeutlichen. "In den 70 Tagen in Untersuchungshaft bin ich ein neuer Mensch geworden. Ich will ein Vorbild für meine Kinder werden."

18 Monate Haft

Derzeit ist er noch keines. Etl verurteilt ihn rechtskräftig zu 18 Monaten Haft, sechs davon unbedingt. Für den Stoß auf dem Gehsteig spricht der Richter dem Opfer 15.000 Euro Schmerzensgeld zu, der Pensionist im Modegeschäft hat Anspruch auf 3.000 Euro. A. und seine im Saal anwesende Freundin beginnen laut zu schluchzen, als das Urteil verkündet wird.

"Gibt es die Möglichkeit für Haftaufschub bis zur Geburt?", fragt die Lebensgefährtin den Richter nach der Verhandlung. "Nein, das ist nur bei Schwangeren möglich." Die Anklägerin hat dann doch eine gute Nachricht: "Stundenweiser Ausgang kann möglich sein. Da muss man einen Antrag stellen." (Michael Möseneder, 2.5.2017)