Kleinschmidt: Flüchtlinge brauchen Normalität.

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Wien – Die Arbeit in Krisengebieten ist mit Gefahr verbunden. Als langjähriger Uno-Mitarbeiter und Trouble Shooter in afrikanischen und nahöstlichen Flüchtlingslagern weiß das Kilian Kleinschmidt (54) genau. Mehrmals war er als Helfer in akuter Lebensgefahr und musste sich auch mit Gewalt auf Seiten jener Menschen auseinandersetzen, deren Leben in den Camps er verbessern und die er schützen sollte.

Im Interview spricht Kleinschmidt darüber, wie er mit seinen traumatischen Erlebnisse zu Rande kommt, welche Folgen das Leben in Krieg und Chaos für die Betroffenen hat – und dass den friedensgewohnten Europäern solche Ausnahmezustände geschichtlich näher sind als es vielen lieb ist.

STANDARD: Sie haben Ihre eigene Tätigkeit als Helfer mit einem Psychiater aufgearbeitet. Warum?

Kleinschmidt: 2001 kehrte ich von einem Uno-Einsatz im Kongo nach Brüssel zurück. Ich saß bei Diplomatentreffen und in Cafés, aber ich schien von oben zuzusehen und zu sagen: "Ihr wisst ja gar nicht, was auf dieser Welt los ist." Ich fand zum reichen Europa keine Verbindung. Da sagte mir ein Armeepsychiater, dass Soldaten rund um Einsätze in Krisengebieten psychiatrisch betreut würden. Bei der Uno gab es das nicht.

STANDARD: Sie hatten Flashbacks, Wiedererleben schlimmer Erlebnisse. Haben Sie das bewältigt?

Kleinschmidt: Zum Teil. Nach wie vor werde ich nervös, wenn ich Waffen sehe, denn ich bin in Uganda eines Morgens mit einer Waffe am Kopf aufgewacht und wurde eine Stunde lang wegen Geld gefoltert, das ich nicht hatte. Auch kann ich in der Küche Fettspritzer nicht aushalten. Bei Selbstmordanschlägen zerfetzt es Menschen und verursacht eine Art Fettregen.

STANDARD: Wegen Anschlägen und Verfolgung verlassen auch viele Flüchtlinge ihre Heimat. Brauchen diese nicht auch eine solche Aufarbeitung?

Kleinschmidt: Wenn sie nicht akut psychisch erkrankt sind, ist ihnen am besten mit Normalität geholfen und mit der Möglichkeit, über ihre Erlebnisse zu reden. Ich spreche darüber, das ist meine Therapie, das habe auch ich von meinem Psychiater gelernt.

STANDARD: Sie schildern, dass Sie aufgrund Ihrer Erlebnisse keinen Kontakt zur europäischen Realität fanden. Müsste man, was Flüchtlinge angeht, derlei nicht auch integrationspolitisch berücksichtigen?

Kleinschmidt: Ja – und zwar auch, weil nicht nur Todesgefahren traumatisieren können, sondern auch eine kaputte Gesellschaft. Als Leiter des Flüchtlingslagers Zaatari in Jordanien warfen mir Bewohner vor: "Du bist wie Bashar (al-Assad, Anm.)." Warum? Weil ich Regeln einführen wollte. Das wurde als Diktatur gesehen. Anlass war, dass ich einen Graben in der Straßenmitte verboten hatte. Dass der für Kinder und Autos gefährlich ist, mussten sie erst selbst begreifen.

STANDARD: Verändert die Ankunft vieler Menschen mit solchen Erfahrungen eine Gesellschaft?

Kleinschmidt: Ich finde, wir sollten nicht so tun, als wäre uns derlei fremd. Auch wir leben in nach wie vor traumatisierten Gesellschaften, durch den Zweiten Weltkrieg und den realen Sozialismus. Das Problem ist vielmehr, wie wir es schaffen, in Europa verschiedene Lebensformen unter einen Hut zu bekommen. ( Irene Brickner, 1.5.2017)