Was fordern wir eigentlich? Das ist bisweilen unergründlich, Wiener schimpfen gern über alles. Nur eines ist gewiss: Wenn sie die Wiener SPÖ nicht mehr wollen, hat die Sozialdemokratie insgesamt ein Problem.

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Die "echten" Wiener unterscheiden sich von den unechten zumeist dadurch, dass sie über ihre Stadt leidenschaftlich gern schimpfen. Wobei das "echt" und das "unecht" nichts damit zu tun hat, ob man hier geboren wurde oder aus irgendeiner Gegend der Welt zugereist ist. Es wird geschimpft, was das Zeug hält: über die Radfahrer, die Autofahrer, die Fußgänger, die Jungen, die Alten, die Hochkultur, die Subkultur – und über die Politiker.

Wem von all dem Geschimpfe leicht schummrig wird, der unterhalte sich mit einem oder einer der fast 30.000 Zugereisten aus den Bundesländern. Die meisten bringen auf den Punkt, was diese einzige Metropole Österreichs und Welthauptstadt des Raunzens ausmacht: Hier ist es weit, wo es anderswo, "auf dem Land", eng ist. Hier ist es liberal, dort konservativ; hier gibt man sich kosmopolitisch, dort kleingeistig; hier ist man offen, wo man anderswo an Grenzen stößt.

Das ist die Stimmung, die Andreas Höferl gerade in Währing entgegenschlägt. Höferl, im Hauptberuf Direktor des SPÖ-Klubs im Wiener Rathaus, hat sich nach Dienstschluss an einem warmen Frühlingsabend seine SPÖ-rote Jacke übergezogen, ein paar Fragebögen unter den Arm geklemmt und auf den Weg in den 18. Bezirk, Wien-Währing, gemacht.

Höferl macht seine Hausbesuchstour, bei der ihn der STANDARD diesmal begleitet, und es sei purer Zufall, sagt er, dass dies zeitnah vor dem SPÖ-Landesparteitag am Samstag geschehe. Er versuche, zumindest ein- bis zweimal pro Monat an Haustüren zu klopfen und mit Menschen ins Gespräch zu kommen, "um ihre Sorgen und Bedenken zu hören".

Was Höferl an diesem Abend hört, übrigens hauptsächlich von jüngeren Bewohnern Wiens, denen man den Bundesländerakzent noch anhören kann, ist Zufriedenheit: mit der Wohnqualität, der Ruhe, den Öffis. Die Menschen wirken entspannt und sind freundlich zum Mann an ihrer Wohnungstür. Ginge es danach, hätte die SPÖ in Wien die absolute Mehrheit.

Faymanns Erbe

Dass dem nicht so ist, dass die einst mächtige alleinregierende Partei bei Wahlen im Gegenteil stetig verliert, während die FPÖ ebenso stetig dazugewinnt, ist der Hauptgrund, warum es in der roten "Familie" gehörig kracht. Seit gut einem Jahr, als dem damaligen Kanzler und SPÖ-Chef Werner Faymann beim Maiaufmarsch auf dem Wiener Rathausplatz ein gellendes Pfeifkonzert entgegenschallte und der Aufmarsch der Bezirke sehr deutlich zeigte, wer "pro" und wer "contra" Werner war, ist der Teufel los.

Faymann und seine Getreuen werfen dem Wiener Bürgermeister und Parteichef Michael Häupl vor, er habe das alles "zugelassen" – andere wiederum kreiden ihm an, dass er zu lang gezaudert habe, den strauchelnden Faymann zum Rücktritt zu überreden.

Seither vergeht kein Monat, in dem nicht zumindest einer den Führungsstil Häupls kritisiert, sich an Wiens liberaler Flüchtlingspolitik stößt oder sich an Häupls Stadträtinnen abarbeitet. Besonders der ehemalige Parteisekretär Christian Deutsch tat sich hervor, ebenso der Bezirksvorsteher von Donaustadt, Ernst Nevrivy, oder Harald Troch, Simmeringer SPÖ-Chef, der den Verlust des Bezirksvorsteherpostens an die FPÖ noch nicht verdaut hat.

Enervierende Personaldebatten

Vorläufige Höhepunkte in der Auseinandersetzung: der vorzeitige Abgang von Sonja Wehsely, eine "Aussprache" Häupls mit seinen Kritikern und das darauf folgende STANDARD-Interview von Nationalratspräsidentin Doris Bures, die den derzeitigen Wohnbaustadtrat Michael Ludwig, Liebling des "rechten" SPÖ-Flügels, für einen "sehr geeigneten Bürgermeister" hält.

Dass die enervierenden Personaldebatten nach dem Landesparteitag am Samstag ein Ende haben werden, glaubt sowieso niemand. Schon wurden in den sozialen Netzwerken Überlegungen laut, ob man die Rathausführung beim Maiaufmarsch mit Transparenten oder Pfeifkonzerten abstrafen sollte.

Fast könnte man glauben, es gehe lediglich darum, wer das größere Küberl und das längere Schauferl in der großen, roten Wiener Sandkiste bekommt. Tatsächlich geht es aber um nichts weniger als um die Frage, wie Wien in Zukunft sein soll: links oder rechts, rot-grün oder rot-blau, groß- oder kleinstädtisch, offen und multikulti oder verschlossen und mehr oder weniger xenophob.

An den Abgründen des "goldenen Wienerherzen" haben sich Generationen von Künstlern abgearbeitet. Dennoch: In der Stadt herrscht ein anderes Lebensgefühl als auf dem umliegenden Land, hier ging und geht immer noch mehr als im Rest Österreichs. Das lokaltypische Selbstbewusstsein (auch "Mir san mir"-Mentalität genannt) lässt zumeist auch das "Andere" zu. Man akzeptiert es abmaulend und ist am Ende ein wenig stolz, dass es das gerade hier gibt: Lifeball, Regenbogenparade, Integrationshaus, Flüchtlingsball, Burgtheater-"Skandale", Ampelpärchen, die einzige rot-grüne Koalition Österreichs.

Die Arroganz der City

Auch dieses Image, nicht nur der Hass auf den politischen und administrativen "Wasserkopf" Österreichs, weckt das Misstrauen der Provinz gegen "die Wiener". Und es weckt Misstrauen an den Rändern der großen Stadt. Denn was Wien auch gut kann, ist arrogant zu sein. Da steht es London oder Paris nicht nach. Man weiß, wer man ist, was man hat und wofür man steht.

Es ist das Selbstbewusstsein der Bezirksbürger innerhalb des Gürtels. Hier lebt auch die neue bürgerliche Elite dieser Stadt: gut ausgebildet, kosmopolitisch, oft in kreativen Berufen erfolgreich. Man ist stolz auf seine Offenheit und Toleranz, man engagiert sich für Flüchtlinge und Menschenrechte, ist ernährungsbewusst und macht beim Urban Gardening mit.

Nicht nur die Donau, eigentlich eine ganze Welt trennt die Bewohner der inneren von den bevölkerungsreichen Bezirken im Norden, wo die großen Neubauten stehen und Familien mit schwächeren Einkommen leben.

Dort beäugt man die "Bobos" mit Argwohn: Was haben die nur mit ihrer Willkommenskultur? Sind nicht schon genug Ausländer hier? Wird nicht jetzt schon zu oft eingebrochen? Sind die Schulen nicht ohnehin überlastet mit den Ausländerkindern der zweiten und dritten Generation? Und was soll diese Koalition mit den Radweg- und Begegnungszonen-fixierten Grünen? Dass diese gerade ob des Bauprojekts am Heumarkt selbst in schweren Turbulenzen stecken, macht die Sache nicht einfacher.

Und weil alles nicht so einfach ist, ist der tiefe Graben, der sich durch Wien zieht, nicht geradlinig, er hat Verwerfungen und Untiefen: Die Bobos gehen zwar gern am Brunnenmarkt im ausländerstarken Ottakring aus, sie ziehen dort vielleicht sogar in eine Dachgeschoßwohnung – aber sie schicken ihre Kinder dann doch lieber in Schulen in die Josefstadt, innerhalb des Gürtels. Der hohe Ausländeranteil in den Ottakringer Klassen erscheint ihnen zu beängstigend.

Und im 21. und 22. Bezirk sowie im ehemals tiefroten Simmering folgen längst nicht alle SPÖ-Funktionäre der blauen Appeasementpolitik ihrer Vorsitzenden. SPÖ-Rebell Troch sah sich selbst mit Rebellen konfrontiert, die seinen Law-and-Order-Kurs in Flüchtlingsfragen nicht mittragen wollen.

Abschied vom Klassenfeind

Die Partei verstehe ihre Basis nicht mehr, sie sei meilenweit entfernt von jenen, die sie eigentlich vertreten wolle, heißt es oft. Der Jugendtrendforscher und Sozialdemokrat Bernhard Heinzlmaier hat es kürzlich in einem wütenden Essay auf den Punkt gebracht: Die stolzen Proleten von einst gebe es längst nicht mehr, alle hätten es sich in den Wohnzimmern des bürgerlichen Klassenfeinds gemütlich gemacht – zuallererst die Politiker in ihren kommunalen Machtpositionen, aber auch ihre (einstigen) Wähler.

Dabei hat die Wiener SPÖ in den letzten Jahren alles getan, um die Zufriedenheit der Wienerinnen und Wiener sicherzustellen: vom Gratiskindergarten bis hin zu leistbaren Öffis, von öffentlich zugänglichen Lustbarkeiten auf dem Rathausplatz bis hin zu den Grillbeauftragten auf der Donauinsel.

Wohnbeihilfe, Heizkostenzuschuss, Gackerlsackerl und Ordnungskräfte in den U-Bahnen: Wien wird mit großem Aufwand verwaltet, man versucht, an alle möglichen Beschwerden zu denken. Schon deshalb tanzen alle erleichtert um jede neue Mercer-Studie wie um das Goldene Kalb: Ja, in Wien lebt es sich hervorragend. Und warum straft die Welthauptstadt der Raunzer dennoch ihre Regierenden in der Wahlzelle ab?

Andreas Höferl, unterwegs in Währing, hört aus seinen Gesprächen mitunter heraus, warum das so sein könnte: Auch in Wien weht mittlerweile ein raueres Lüfterl namens Globalisierung: Die Arbeitslosenquote ist vergleichsweise hoch, das rote Bildungs- und Aufstiegsversprechen ist längst nicht eingehalten. Bei der Pisa-Studie schneiden Wiener Schulen regelmäßig desaströs ab, die Jugendarbeitslosigkeit ist vergleichsweise hoch – und gleichzeitig steigt der Anteil jener, die von der Mindestsicherung leben.

Wiener Dilemma

Ökonomisch sind die fetten Jahre längst vorbei – aber immer noch buttert die SPÖ in Wien Unsummen in eine aufgeblähte Verwaltung, die alles und alle am liebsten zwangsorganisieren würde. Das mag man zu früheren Zeiten hingenommen haben – immerhin sicherte ein rotes Parteibuch nicht unbeträchtliche Vorteile.

Heute gibt es "die Partei", die übermächtige, so längst nicht mehr. Dazu ist die Welt 2.1 zu kompliziert geworden, es ist die Welt der Generation Internet, der Ich-AGs und der kreativen Kleinstunternehmer, diese Welt ist öko und bürgerlich, und in ihr vertraut man nicht auf Politik, sondern höchstens auf sich selbst.

Dieses Dilemma ist nicht leicht zu lösen, das spüren alle Beteiligten. Eine junge Frau öffnet die letzte Wohnungstür, an der Andreas Höferl an diesem Abend klingelt. Sie lächelt freundlich und fragt höflich: "Und was passiert nach dem Häupl?" Das wüsste wohl nicht nur sie gern. (Petra Stuiber, 29.4.2017)