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Um Erkrankungen der Darmschleimhaut untersuchen zu können, bauen Forscher Därme in Miniaturmodellen nach.

Foto: Picturedesk / Science Photo Library / CNRI

Innsbruck – Früher wären sie wohl gestorben, noch bevor sie laufen gelernt hätten. Ständiger Durchfall hätte ihre kleinen Körper komplett ausgelaugt. Heute, dank der modernen Medizin, können die Kinder überleben. Nahrung und lebenswichtige Elektrolyte werden ihnen intravenös zugeführt. Richtig behandeln lässt sich ihre Krankheit allerdings noch nicht. Sie leiden an MIVD, einem erblich bedingten Schaden der Darmschleimhaut. Die dort ansässigen Epithelzellen sind kaum in der Lage, Nährstoffe aufzunehmen, wie Lukas Huber von der Med-Uni Innsbruck erläutert. Ursache sei ein stetiger Verlust von Flimmerhärchen an den äußeren Membranen. "Die Zellen bekommen Glatzen", sagt Huber. Und ohne Behaarung keine effiziente Absorption.

MIVD wird meistens durch Mutationen im genetischen Code für den Botenstoff Myosin Vb ausgelöst, wie Forscher 2008 herausfanden. 2014 entdeckte ein Team eine bis dahin unbekannte MIVD-Variante, verursacht durch Defekte im Gen STX3 (vgl. Gastroenterology, Bd. 147, S. 65). Auch Huber war an diesen Studien beteiligt. STX3 trägt die Information für die Synthese von Syntaxin 3. Letzteres spielt eine wesentliche Rolle bei der Steuerung von Proteintransporten. Die Untersuchungen wiesen zunächst bei zwei Kleinkindern Abweichungen in der entsprechenden Sequenz nach. Durch diese Mutationen konnten die Epithelzellen Syntaxin 3 offenbar nur in einer gekürzten und somit inaktiven Version produzieren. Dass die Störung tatsächlich den Flimmerhärchen-Ausfall bewirkte, zeigten die Wissenschafter mit einer revolutionären Methode: Sie züchteten Organoide.

Natürlich kann man mit Kindern keine Experimente machen, betont Huber. Gewebeproben indes lassen sich ohne größere Schwierigkeiten endoskopisch entnehmen. Dabei wird ein winziges Stück Schleimhaut, nicht größer als ein Stecknadelkopf, aus der Darmwand gezupft. Es enthält Epithelzellen in allerlei Formen und Entwicklungsstadien. Einige davon sind Stammzellen, sagt Huber. Ihre Aufgabe ist es, sich regelmäßig zu teilen und die Regeneration aufrechtzuerhalten – durch Nachschub an frischen Zellen.

Tod durch Vereinsamung

Das Schleimhautgewebe an sich lässt sich nicht dauerhaft kultivieren. Isolierte Epithelzellen sterben bald ab. "Tod durch Vereinsamung" nennt Huber das. Es fehlen zahlreiche Botenstoffe, mit denen sich unterschiedliche Zelltypen gegenseitig steuern und stimulieren. Vor knapp zehn Jahren indes gelang es einer Arbeitsgruppe an der Universität Utrecht, Darmstammzellen gezielt zu manipulieren – ein Durchbruch. Dank der neuen Technik konnten die Forscher Mini-Modelldärme in Reagenzgefäßen wachsen lassen, genant Organoide. Ermöglicht wird das durch den Einsatz künstlich produzierter Signalmoleküle, den sogenannten Nische-Faktoren. Ob die Stammzellen sich teilen oder im Ruhezustand verharren, hängt vom Wechselspiel just dieser Substanzen ab.

Lukas Huber und seine Innsbrucker Kollegen haben das Verfahren übernommen und ziehen Darmorganoide in ihren Laboren auf. Hierzu wird das entnommene Probenmaterial zunächst in Nährlösungen mit teilungshemmenden Nische-Faktoren gehalten. Die Stammzellen sollen sich vorerst nicht regen, erklärt Huber. Die anderen Epithelzellen gehen derweil zugrunde. Im nächsten Schritt transferiert man die verbleibenden Stammzellen auf ein Gel und gibt ihnen die biochemischen Signale zur Differenzierung. Schon bald bilden sich mehrere spezialisierte Zelltypen wie die nährstoffabsorbierenden Enterozyten. Es dauert einige Tage bis Wochen, bis so ein vollständiges Organoid heranwächst, sagt Huber. Dann verfügt das Gebilde über fast sämtliche Eigenschaften einer Darmschleimhaut. Ein ideales Modell für funktionelle Studien.

Einer der größten Vorteile von Organoiden ist ihre genetische Ausstattung. Das Erbgut ist identisch mit dem des Patienten – Defekte inklusive. Viele angeborene Darmstörungen haben noch unbekannte Ursachen, betont Huber. "Und nicht alle sprechen auf die gängigen Medikamente an." Letztere können allerdings starke Nebenwirkungen haben, oder sie sind sehr teuer. Die Therapie von Mukoviszidose zum Beispiel kostet pro Kind rund 250.000 Euro jährlich und greift nicht immer. Das Innsbrucker Team ist nun in der Lage, die Wirksamkeit eines Präparats vorher an Organoiden der Betroffenen zu testen. Personalisierte Medizin in Reinkultur.

Die Kleinstklone eröffnen nicht nur der Darmforschung neue Perspektiven. Aus Krebszellen lassen sich Miniaturen von Tumoren züchten. "Wir verwenden chemische Bibliotheken mit zigtausenden verschiedenen Wirkstoffen", sagt Huber. Automatisierte Tests machen es möglich. "Tumor-Organoide sind jedoch viel schwerer zum Wachsen zu bringen." Der Hintergrund: Die Krebszellen brauchen bestimmte, quasi entgleiste Signalketten, um wie gehabt wuchern zu können. Solche Kaskaden seien nur schwer nachzustellen, aber es gelingt den Wissenschaftern zunehmend.

Inzwischen haben die Innsbrucker Forscher begonnen, in Zusammenarbeit mit italienischen Kollegen eine Biobank für Organoide aufzubauen. Zurzeit sind mehrere Dutzend Patientenproben in Untersuchung, in ein paar Jahren sollen es hunderte sein. (Kurt de Swaaf, 27.4.2017)