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Brauchen wir also mehr oder weniger Empathie? Gewiss ist Empathie eine Voraussetzung für Kommunikation und Zusammenleben überhaupt.

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Ex-US-Präsident Barack Obama hielt schon in einer Rede 2006 die Bekämpfung eines von ihm beklagten Empathiedefizits für dringlicher als die Linderung des Budgetdefizits. Später mahnte er ein, dass die Höchstrichter sich nicht nur durch Fachkenntnis, sondern auch durch Empathie auszeichnen sollten. Obamacare ist nicht nur der Name eines Gesundheitssystems, sondern war auch eine Metapher für eine Politik der Fürsorge.

Dem Politikappell zu einer Umerziehung der Gefühle korrespondiert der Wunsch nach einer Lebenskunst der Einfühlung in sozial engagierten Plattformen, die Empathie als "Brücke zum Herzen" preisen. Viele NGOs verstehen Empathie heute als sozialen Klebstoff, der das zusammenhält, was laut Margaret Thatcher gar nicht existiert: die Gesellschaft. Die Fähigkeit, in die Haut des anderen zu schlüpfen, wie Obama die Empathie definiert, wurde zum moralischen Ideal, das die Rede von der christlichen Nächstenliebe beerbt und das etwa auch von Künstlern wie Ai Weiwei bedient wird, indem er mit großem Medienecho das Foto eines dreijährigen ertrunkenen Flüchtlingskinds nachstellt. Und tatsächlich: Gibt es nicht zu wenig Mitgefühl? Brauchen wir angesichts schwindender politischer Solidarität und alarmistischer Narzissmusbefunde nicht mehr Verständnis für das Leben der anderen in My-country-first-Zeiten?

Die harte Wahrheit

Dazu zunächst drei Beobachtungen: Erstens fällt der empathische Imperativ wohl nicht zufällig in eine Phase der Deregulierung und Prekarisierung. Die Rede von der nötigen Einfühlung soll dort wärmen, wo ein rauer ökonomischer Wind weht und die Krise zum Dauerzustand erklärt wird. Die harte Wahrheit sprechen jene Manager aus, die sich mit ein paar Millionen Euro Jahressalär unterbezahlt gegenüber besser verdienenden Kollegen fühlen und sich eben nur in jene einfühlen können, die wissen, wie viel eine Yacht in der Erhaltung kostet. Zweitens ziehen gerade Narzissten die Empathie von Narzissmusopfern auf sich, die sich beständig ihre Gedanken über die Beweggründe der attestierten Kälte ihres Gegenübers machen, wie Kirstin Dombek in einer Studie herausgearbeitet hat. Diese versuchen zu verstehen, warum Narzissten nicht etwas miterleben, sondern lieber selbst etwas erleben wollen. Drittens sollte man daran erinnern, dass die heute in westlichen Ländern kursierende Aufforderung zur Empathie in der Regel eine Gefühlsleistung meint, deren Erbringung einen privilegierten sozialen Status voraussetzt.

Der Verweis auf die Wichtigkeit der Empathie als Sozialhilfesüßstoff geht von der Ungleichheit zwischen Empathiegebenden und Empathieempfangenden aus. Empathie erhält in diesem Modell des gebenden Gefühls, wer hilfsbedürftig erscheint. Empathisch zu handeln bedeutet zunächst aber nur, sich für die Welterfahrung eines anderen zu entscheiden – ohne moralische Gütesiegel und ohne Garantie, damit etwas Richtiges zu tun. Für viele macht erst das Miterleben mit dem anderen den Menschen zum Menschen. Schopenhauer ist ein Gewährsmann dieser Vorstellung von Mitgefühl, das dazu dient, den Egoismus zu überwinden. Er preist das Mitleid als Form jener wahren und einzigen Liebe, die nicht Selbstsucht ist. Es flutet auch die Befestigungsanlagen zwischen Ich und Nicht-Ich. Schopenhauer wurde von Nietzsche in dessen Unzeitgemäßen Betrachtungen als Erzieher glühend verehrt. Später wandte sich der Schüler vom Lehrer ab und entwickelte seinen radikalen Gegenentwurf zur Mitleidsethik. Nietzsche spottete nicht nur über die zuckrige Milde der Sklavenmoral und bereitete damit den Boden für die Verachtung der sogenannten Gutmenschen durch heutige Propagandisten der Verhaltenslehre der Kälte. Mitleid wird in seinem Plädoyer für ein Pathos der Distanz zu einer unangenehm riechenden Perversion, die er kulturgeschichtlich als moralisch verbrämte Rache der Schwachen an den Starken deutet. Echtes Mitleid führt in Nietzsches Theorie des Triebtriumphalismus zu nichts anderem als zu der Feier des Leids: Wer mitleidet, verbreitet und potenziert das Leid, anstatt es zu lindern.

Man kennt den Vorbehalt gegen das Gefühlige auch von der Linken: Mitleid zementiert die Verhältnisse, die zum Leid führen, ein. Einfühlung ist partizipativ, aber zugleich tendiert sie dazu, die Schwäche des anderen als Schwäche aufrechtzuerhalten. Opfer sollen Opfer bleiben, damit sie auf Mitgefühl rechnen dürfen. Der Opferperspektive wird eher recht gegeben als jemandem, der sich nicht als Opfer darstellen kann. Deshalb wird etwa in militärischen Konflikten um die erfolgversprechendste Aussicht auf sympathisierende Empathie gekämpft. Das Youtube-Hit-taugliche Bild eines Trauerzugs für einen getöteten Zivilisten wirbt mit drastischen Mitteln um solidarische Einfühlung in die Empörung über die politischen Zustände, die den Tod verantworten. Es verschweigt aber zugleich möglicherweise Zusammenhänge, die eine eindeutige Schuldzuweisung erschweren würden. Opferfürsprecher, die den Schmerz anderer zur einzigen politischen Wahrheit umdichten, verlieren gerade wegen ihrer grenzenlos erscheinenden Empathiefähigkeit mit einer Konfliktpartei den Bezug zur Perspektive der entgegengesetzten Position. Doch selbst wenn Leidende zweifelsfrei ohne Schuld sind: Wem hilft Mitleid, wenn daraus nicht Handlungen resultieren? Zunächst einmal dem, der jene Solidarität ohne Tat, als die man Mitleid auch bezeichnen könnte, überhaupt aufbringt. Die Person fühlt sich besser damit, als wenn sie keines artikulieren und es nicht Dritten zeigen könnte. Der Dokumentartheatermacher Milo Rau nannte eines seiner letzten Stücke Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs. Er spricht in Interviews von zynischem Humanismus, nennt die Willkommenskultur eine Wohlfühlethik und fordert statt Einfühlung politisches Handeln und gelebte Solidarität.

Bedrohung für das Ich

Wer Mitleid hat, gibt sich nicht nur von zu Erzählungen über Gut und Böse gerahmten Leiderfahrungen betroffen. Er erscheint auch als besserer Mensch, der seine moralische Autorität vor diversen Instanzen wie Gott oder dem Charity-Komitee in Rechnung stellen darf. Nietzsche nennt diese Rendite auf eine emotionale Investition spöttisch "das Glück der kleinsten Überlegenheit". Empathie erscheint bei Nietzsche als Bedrohung für das Ich, als Folgewirkung einer Selbstbeobachtung, die im Ich gräbt und keine Substanz findet. Doch hat man diese je gehabt? Ausgerechnet der anrührende Franz Kafka schreibt in seinem Tagebuch 1911 so unbestechlich wie hellsichtig: "Ein Jahr müsste ich suchen, ehe ich ein wahres Gefühl in mir fände."

Nicht jede Person, die sich hinter schwarzen Sonnenbrillen versteckt, hat ein Empathiedefizit. Möglicherweise, so lässt sich spekulieren, ist manchmal sogar das Gegenteil der Fall. Gerade weil zu viel Anteilnahme droht, müssen Grenzschutzmaßnahmen her, um einen pragmatischen und nicht ichzerstörerischen Umgang mit der Empathie zu gewährleisten. Der empathisch sich verlierende Mensch im Sinn Nietzsches hingegen steckt in einer "Bewunderungsfalle" (Fritz Breithaupt) für diejenigen, die "larger than life" sind. Größer als das Leben heißt größer als das eigene Leben: Das kann ein charismatischer Star sein oder auch nur ein Promi, ein Künstler, ein Sportler, ein politischer Führer oder Verführer, der eine starke Identität und Gesten der Souveränität exemplarisch inszeniert und dafür mit faszinierter Anteilnahme überschüttet wird.

Es kann aber auch jemand sein, der nicht privilegiert, sondern diskriminiert und deklassiert ist, aber wie der Star so wirkt, als kümmere er sich nicht um das Nachfühlen der Perspektiven anderer, sondern um seine eigenen Probleme. Das nackte Leben der Opfer und die attestierte Authentizität ihrer Perspektiven werden vom vampiristischen Empathiker als unschuldig und natürlich imaginiert. Er versucht zu verstehen, was beispielsweise ein Rassismusopfer fühlt, dem unterstellt wird, keine Einfühlung in die Sichtweise seiner rassistischen Umgebung nötig zu haben, weil es ihm schlicht um die Bekämpfung und Überwindung dieses Rassismus geht. Kurz: Der Empathiker Nietzsches erfindet eine stark ausgeprägte Identität im Gegenüber, die er selbst nicht besitzt.

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Gleichzeitig zögern wir nicht, dem nächsten Obdachlosenzeitungsverkäufer stumm auszuweichen ...
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Nun ist die Warnung vor Empathie als Ausdruck einer Krise, die unweigerlich auf die Erfahrung eines Selbstverlusts folgt, sicher weder empirisch haltbar, noch wird sie der sozial wünschenswerten Funktion der Empathie im Sinn eines besseren Verständnisses des anderen gerecht. Eine bewohnte Welt ohne Empathie ist schlicht nicht vorstellbar. Dieses Verhältnis kann allerdings, etwa in Folterritualen, in Gewaltpornografie oder im Sadismus, der gerade aus der Nachempfindbarkeit des Schmerzes seine Lust gewinnt, auch radikal gegen den Empathieempfänger gewendet werden. Ein besseres Verständnis eines Gegenübers dient also keineswegs automatisch einem guten Zweck. Zum einen kann dessen Verhalten selbst verwerflich sein. Man denke etwa an die auch juridisch immer wieder von der Verteidigung ins Treffen geführte Notwendigkeit der Einfühlung in die Täterseele. Zum anderen kann Empathie auch im Dienst von Kontrolle und Manipulation stehen, die umso besser klappt, je besser man jede Regung des Beobachteten zu verstehen und vorauszusagen glaubt. Geheimdienste und soziale Netzwerke sammeln rastlos Daten, überbesorgte Helikoptereltern oder obsessive Stalker betreiben schrankenlose Ausspähung unter dem Vorwand der Empathie.

Auch politisch ist und bleibt das Verhältnis von Empathiefluss und Empathieblockade prekär. Der Empathieprediger Obama hat den Drohnenkrieg im Irak, in Pakistan und in Afghanistan ausgeweitet. Von einem anderen Kontinent aus gesteuerte Distanzwaffen lassen auf Angriffe ohne Stress und auf einen kühlen Blick auf Ziele hoffen. Der Pilot im fernen Las Vegas ist wie der Kommandostab im Weißen Haus, der die Tötung von Osama Bin Laden gebannt am Schirm verfolgt, in der Position eines Schreibtischtäters, dem die Last der Empathie durch Distanz abgenommen werden soll – auch wenn neue Studien zeigen, dass Drohnenpiloten ebenso wie Soldaten im Häuserkampf unter Posttraumatic-Stress-Disorder-Symptomen leiden können.

In der Bewunderungsfalle

Obamas Nachfolger Donald Trump hingegen zieht nicht nur wie jeder Narzisst die Empathie von Menschen in der Bewunderungsfalle auf sich. Wie alle Rechtspopulisten befeuert er auch eine Politik der Gefühle, die signalisiert, sich in Sorgen des vielzitierten kleinen Mannes (seltener: der kleinen Frau) und seine Wut über "die da oben" einfühlen zu können. Volksversteher wie Trump fordern in ihren Tiraden gegen die Eliten ohne Herz zugleich zur Empathieblockade gegen das zu jagende Establishment und jene zu entrechtenden Menschen ohne die richtigen Papiere auf, die allesamt nicht zur Fiktion des Volks gehören dürfen.

Ein entscheidendes Kriterium für Funktion und Inanspruchnahme von Empathie ist die attestierte Ähnlichkeit. Ich fühle mit euch und wie ihr, die ihr mir ähnlich seid, sagen die Populisten zu "ihren" Leuten, die den "anderen" Leuten nicht so ähnlich sein sollen. Empathie bedeutet: Wir erleben etwas mit anderen mit und hoffen darauf, dadurch andere besser zu verstehen, weil wir voraussetzen, etwas mit ihnen gemeinsam zu haben. Wir glauben, eine Perspektive zu teilen. Wir wissen nicht exakt, wie sich jemand fühlt, weil er oder sie verlassen wurde. Aber wir können es uns vorstellen. Können wir uns den Schmerz eines Hunds vorstellen, der jault? Funktioniert Empathie bei einem Fisch, der zappelt? Bei einer Mücke, die uns ihren Schmerz nicht spiegelneuronentauglich anzeigt? Der Kulturwissenschafter und Kognitionsforscher Fritz Breithaupt meint, dass nicht die Ähnlichkeit zwischen Beobachter und Beobachtetem die Bedingung der Möglichkeit von Empathie darstellt, sondern die Überschätzung dieser Ähnlichkeit. Die überschätzte Ähnlichkeit ist der Grund, wieso wir nicht nur um tote Kinder, sondern auch um verletzte Tiere, entlaubte Bäume, traurige Lampen in Trickfilmen oder um kaputte Roboter weinen können.

Wir töten die Mücke

Gleichzeitig zögern wir nicht, dem nächsten Obdachlosenzeitungsverkäufer stumm auszuweichen oder im nächsten Moment eine lästige Mücke zu erschlagen. Im Gegensatz zur emotionalen Ansteckung treffen wir diese Entscheidungen der Empathiesuspension bewusst. Wir töten die Mücke, weil wir in diesem Moment nichts über sie wissen und ihre Perspektive nicht miterleben wollen. Aber wenn wir einen Animationskinderfilm aus Mückenperspektive sehen würden, würden wir wahrscheinlich mit den Kindern mitfiebern, die mit der Mücke mitfiebern.

Animationskinderfilme weisen darauf hin, dass Empathie ein Script – und sei es noch so minimal – benötigt. Wenn Leonardo DiCaprio in Titanic im Eiswasser melodramatisch untergeht, weinen Millionen; wenn Millionen ohne Namen und Plot verhungern, weint niemand. Mehr noch als die Empathie mit realen Lebewesen zeigt die Empathie mit fiktionalen Figuren, dass Empathie eine Filterungsleistung darstellt, die bestimmte – möglicherweise auch den Empathieempfänger in seinen Motiven verfehlende – Momente der Anteilnahme quasi auf Knopfdruck aktiviert und nach Ende der Story wieder deaktiviert. Empathie braucht Performances mit Anfang, Mitte und Schluss.

Der Künstler Harun Farocki erinnert in einem Text an die Tradition der Linken, die falsche Einfühlung durch produktive Verfremdung ideologiekritisch zurückzuweisen: "Dieses Wort gehörte zur Gegen-Partei. Ich hatte von Brecht gelernt, nicht so romantisch zu glotzen." Der junge Farocki versuchte, die Empathie zu politisieren. In seinem berühmten Film Nicht löschbares Feuer über die Komplizenschaft der arbeitsteiligen Gesellschaft mit den Gräueln des Vietnamkriegs fragt er nach dem Sinn von drastischen Bildern. "Wenn wir Ihnen ein Bild von Napalmverletzungen zeigen, werden Sie die Augen verschließen", sagt der junge Farocki in die Kamera. Kurz darauf drückt er die brennende Zigarette auf seinem nackten linken Unterarm aus, ohne mit der Wimper zu zucken: "Eine Zigarette verbrennt bei etwa 400 Grad." Die Brandwunde wird sichtbar. "Napalm verbrennt mit etwa 3000 Grad."

Die Fiktion unmittelbarer Erfahrung

Was passiert in dem Moment mit dem Zuschauer, den Farocki zum Widerstand aufrütteln will? Man fühlt mit Farocki mit, zuckt vielleicht unwillkürlich zusammen. Zugleich aber wird dem Zuschauer die schneidende Differenz zum übertragenen Schmerz des Filmemachers wie zum imaginierten Schmerz von Napalmopfern bewusst. Aus dem Mitgefühl wird eine Einsicht, die uneins mit sich selbst macht. Diese verspricht mehr als der Wirkungstreffer der guten Absichten, die Betroffenheit. Medien ersetzen die (oft mühsame und scheiternde) Arbeit an der Empathie durch die Fiktion unmittelbarer Erfahrung.

"Mittendrin statt nur dabei", heißt der Werbeslogan eines deutschen Privat-TV-Senders. Die Differenz zwischen Ich und Du verschwimmt in der medialen Gier nach Nähe, Identifikation und Authentizität. Daher wackelt die subjektive Kamera nicht nur durch gamifizierte Filme und Virtual-Reality-Animationen; sie boomt auch in der Pornografie oder im DIY-Journalismus der Smartphone- und GoPro-Kameras. Neue Forschungszweige wie Affective Computing oder Emotional Decoding assistieren die Empathie-Exploitation. Sie versuchen, noch nicht verrechnete Emotionen eindeutig lesbar und steuerbar zu machen. Sie sind Teil einer algorithmischen Offensive, die Empathie in ein selbstlernendes Feedbacksystem einspeist.

Vom Fühlen und Liken in der Filter-Bubble

Die kybernetischen Kaufempfehlungen von morgen sprechen es vielleicht gar nicht mehr laut aus, sondern flüstern es anderer Stelle weiter: "Wenn dich das steuert, dann steuert dich möglicherweise auch dies hier." Empathie wird in der Perspektive des privaten und staatlichen Data-Minings zu einem anderen Wort für den kontrollgesellschaftlichen Zugriff auf Einzelne und Gruppen. Denn die medientechnologischen Dispositive, die die digitalen sozialen Netzwerke strukturieren, sorgen dafür, dass Empathie für diejenigen reserviert wird, die schon am Radar der Einfühlung aufgetaucht sind. Die Filter-Bubble stärkt ein fiktives Gemeinschaftsgefühl auf Kosten der empathischen Vorstellungskraft für das davon Ausgegrenzte und Unverstandene. Wir fühlen und liken mit jenen Facebook-Freunden, die uns immer schon nahe erscheinen, und schütteln beim Rest nicht einmal mehr den Kopf, weil wir seinen Gedanken und Gefühlen aus dem Weg gehen wollen oder können.

Brauchen wir also mehr oder weniger Empathie? Gewiss ist Empathie eine Voraussetzung für Kommunikation und Zusammenleben überhaupt. Andererseits ist Empathie immer schon in ein Machtgefälle und in Opfer-Scripts verstrickt. Zudem besteht Empathie aus beständigen Fehlschlüssen über die Motive der Empathiegebenden und das, was überhaupt miterlebt wird. Der "Fetischismus der Empathie" (Dombek) führt dazu, dass wir, um unser moralisches Selbstverständnis zu wahren, vor unangenehmen, nicht mit unserer Weltsicht vereinbaren Beobachtungen zurückscheuen und andere stark machen. Zudem verwandelt sich Empathie "von oben" im algorithmischen Regime der Gegenwart zu einer Form von Kontrollwissen, das sich gegen die verstehbaren und nachempfindbaren Konsumsubjekte wendet.

Aus all diesen Gründen können wir Empathie nicht vorbehaltlos gutheißen. Was wir schon eher brauchen könnten, ist Empathie "von unten" mit einem Verfremdungseffekt, eine Art der Anteilnahme, die sich ihrer Verkennungen, ihrer medialen Kurzschlüsse und ihrer politischen Fallstricke bewusst ist. Es wäre eine Form von Empathie, die nicht der Illusion der Realität auf den Leim geht, sondern sich stattdessen auf die Realität der Illusion einlässt. Man findet sie zum Beispiel in der erschütternden Geschichte über Byron, die ewig leuchtende, parakommunistische Glühbirne in Thomas Pynchons Roman Die Enden der Parabel. Der arme, stolze, kluge Byron flieht vor der Verfolgung durch das verbrecherische Glühbirnenkartell, das Byron buchstäblich das Licht ausblasen will, damit weiter Birnen mit geringer Halbwertszeit verkauft werden können. Wir fiebern so lange mit, bis diese Kohlefadenseele in Sicherheit ist und weiterbrennt bis in alle Ewigkeit. Und wir weinen in Solidarität über all die ermordeten Kollegen und Kolleginnen aus Glas. (Thomas Edlinger, 22.4.2017)