Der Germanist Edward Timms ist pessimistisch, was die Möglichkeiten von Medienkritik betrifft: Jeder könne heutzutage unter jedem möglichen Namen alles sagen.

Foto: Michael Freund

Vor genau 100 Jahren, in der "Fackel" vom April 1917, schrieb Karl Kraus: "Die Lügen im Krieg haben so kurze Beine, daß sie manchmal nur vom Titel bis zur Nachricht kommen." Kritik an der zeitgenössischen Presse war eines der großen Anliegen des Schriftstellers und Satirikers, und auch im Werk seines Biografen, des englischen Germanisten und Kulturhistorikers Edward Timms, nimmt dieser Aspekt einen wichtigen Platz ein.

Timms ist dieser Tage in Wien. Er stellt die deutsche Übersetzung von Band zwei seiner großen Kraus-Biografie vor und die erste komplette Übersetzung der "Letzten Tage der Menschheit" ins Englische, die er gemeinsam mit Fred Bridgham bewerkstelligt hat. Und er spricht über Fake News zu Zeiten von Kraus und im postfaktischen Diskurs unserer Tage.

STANDARD: Wie neu sind Fake News?

Timms: Gar nicht, das geht weit zurück. Das Zeitalter von Kraus und der Erste Weltkrieg waren die klassische Periode, weil Zeitungen Massenauflagen und eine noch nie dagewesene Macht hatten.

STANDARD: Die Zeitungsbarone hatten das Monopol, zu manipulieren und zu lügen. Dieses Monopol gibt es nicht mehr.

Timms: Das ist richtig. Wir sind ins andere Extrem verfallen, wo die Meinungsmöglichkeiten so vielfältig sind, dass es keine Guidelines mehr für Wahrheitsfindung gibt. Überall schwirren Nachrichten, Meinungen und "alternative Fakten" herum – dieser schöne Begriff aus dem Lager von Trump.

STANDARD: Sind die Tugenden eines um Wahrheitsfindung bemühten Journalismus irrelevant geworden?

Timms: Es gibt sie noch, aber sie sind in der Minderheit. Es gibt auch nur wenige Zeitungen, die Berichtigungen bringen. Da war Österreich in der Zwischenkriegszeit fortschrittlich, weil Friedrich Austerlitz, der die "Arbeiter-Zeitung" leitete und Abgeordneter war, den Berichtigungsparagrafen durchsetzte. Das wiederum spielte für Kraus eine große Rolle, weil er dadurch die Zeitungen zwingen konnte, Falschmeldungen zu korrigieren.

STANDARD: Wie groß würden Sie die Wirkung von Kraus' Medienkritik insgesamt einschätzen?

Timms: Seine Großtat war natürlich, Imre Békessy (den Verleger unter anderem des Wiener Boulevardblattes "Die Stunde") aus Wien zu vertreiben. Das war paradigmatisch für die Versuche auch heute, gegen Medienkonzerne aufzutreten. Andererseits hat er, politisch gesehen, im Kampf gegen den Polizeipräsidenten Johann Schober versagt. Er hat nicht verstanden, dass das Doppelspiel, das er ihm vorwarf, zur Politik gehört. Kraus hat sich geschlagen gegeben und gesagt, er habe die sittlichen Kriterien seiner Medienschelte in der Politik aufrechterhalten wollen, doch das sei nicht gegangen.

STANDARD: Wie sehen Sie die heutige Situation einer möglichen Medienkritik?

Timms: (lange Pause) Da bin ich ziemlich pessimistisch. Wenn man bedenkt, dass diese – ich möchte fast sagen: Scharlatane bei der Brexit-Kampagne erfolgreich gewesen sind: Das wäre ohne eine so wirksame und mit populistischen Mitteln durchgeführte Kampagne nicht möglich gewesen. Ganz allgemein ist die Situation durch die sozialen Medien für mich so unübersichtlich geworden. Sie haben eine völlig neue Situation geschaffen, wo es keine Korrektur mehr gibt, weil jeder alles unter jedem möglichen Namen sagen kann.

STANDARD: Die Brexit-Kampagne hat unter anderem behauptet, dass Großbritannien wöchentlich 350 Millionen Pfund an die EU zahlen müsse, die würden nach dem Austritt an den Nationalen Gesundheitsdienst NHS gehen. Das wurde über einen Bus und dann die Medien verbreitet.

Timms: Leider muss ich als Kulturhistoriker sagen: Ach, in 30 Jahren werden wir wissen, wer recht gehabt hat und wer gelogen hat. Aber zurzeit sind die meisten Unterlagen nicht zugänglich.

STANDARD: Die Lüge auf dem Bus konnte man doch gleich als solche erkennen.

Timms: Aber es hat keine Konsequenzen gehabt, weil alles auf einer emotionalen Ebene verlaufen ist. NHS gilt ja in England als nationale Religion. Und wenn man die Aussagen auf dem Bus und auf Plakaten widerlegen wollte, musste man sie zitieren, und das verstärkte paradoxerweise die Aussagekraft.

STANDARD: Medienkritik nimmt heute oft die Form von Satire an, was Kraus nicht fremd war.

Timms: Ja, es scheint eine Satirewelle zu geben, bei uns in England etwa die Zeitschrift "Private Eye". In gewisser Weise hat Kraus das auch vorweggenommen, übrigens auch auf der Bühne. Er war ein begabter Performer, er mochte das deutsche und österreichische Kabarett. Heute würde er wahrscheinlich wie damals live im Theater auftreten – oder im Fernsehen. (Michael Freund, 21.4.2017)