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Eine ehemalige Boko-Haram-Geisel in Maiduguri.

Foto: Foto: Reuters / Carsten

Für einen im Kriegsgebiet gelegenen Tierpark sieht der Zoo von Maiduguri überraschend aufgeräumt aus. Mitten in der Hauptstadt der nigerianischen Provinz Borno, in der seit Jahren einer der grausamst geführten Konflikte dieser Welt tobt, pflegen sich im Zoo junge Liebespaare zu treffen, um Händchen zu halten. Fatima (9), Mohamed (12) und Muna (18) sitzen auf einer Bank neben der Schlangengrube und halten sich krampfhaft an ihren Limonadenflaschen fest, während sie von der Verschleppung durch die Boko-Haram-Sekte, von Auspeitschungen und von einem Soldaten, der vor ihren Augen "geschlachtet" worden sei, berichten.

Maiduguri, sagt die Übersetzerin, war einst "die friedlichste Stadt der Welt". Wenige Kilometer entfernt ein paar Stunden zuvor eine ganz andere Szene: Zwei Mädchen versuchen, mit um den Leib gebundenen Sprengsätzen in eine zum Frühgebet gefüllte Moschee zu gelangen, werden von einem Mann jedoch kurz vorm Eingang gestoppt. Eine der rund 15-Jährigen zündet ihren Sprengstoffgürtel und reißt außer sich selbst ihre Kameradin mit in den Tod. Fünf Beistehende werden verletzt. Der jüngste Anschlag war der dreißigste in diesem Jahr. Die Behauptung der Regierung, Boko Haram besiegt und die Provinz unter ihre Kontrolle gebracht zu haben, wurde von den Explosionen längst zunichtegemacht.

Entführungen

Nach Unicef-Angaben wurden seit der Entführung der Schülerinnen aus dem Städtchen Chibok mehr als 120 Kinder für sogenannte "Selbstmordattentate" missbraucht: In über 80 Prozent der Fälle handelte es sich um minderjährige Mädchen, kein einziger erwachsener Mann darunter. Damals, fast auf den Tag genau vor drei Jahren, waren 276 christliche Schülerinnen aus den Schlafsälen ihres Internats verschleppt worden: Die Massenentführung machte über den Twitter-Hashtag #BringBackOurGirls weltweit Furore. Während rund 50 Mädchen noch in derselben Nacht die Flucht gelang und 21 weitere im vergangenen Herbst entlassen wurden, fehlt vom Rest noch immer jede Spur.

Nach Angaben von Human Rights Watch wurden während des achtjährigen Konflikts in Nigeria weit über zweitausend Frauen und Kinder von den Extremisten als Geiseln genommen. Unter ihnen Muna, Mohamed und Fatima, deren eiserner Griff um die Limonaden sich nur allmählich etwas lockert. Sie hatten noch geschlafen, als die Milizionäre eines frühen Morgens im Jänner 2015 ihr Dorf Daban Waya im äußersten Nordosten des Landes angriffen. Bei den ersten Schüssen rannten die Kinder aus dem Haus und in die Büsche: Ihre Eltern haben sie seitdem nicht wieder zu Gesicht bekommen.

Für Versäumnisse ausgepeitscht

Die Geschwister schlugen sich in Richtung des Nachbarstaats Tschad durch. Doch als sie in einem Kanu einen Arm des Tschadsees überqueren wollten, wurden sie von islamistischen Kämpfern aufgegriffen. Die Extremisten brachten sie zu einem Camp. Muna wurde einem der Kämpfer als "Ehefrau" zugeführt. Versuchte sie, ihm auszuweichen, sei sie verprügelt worden. Als Fatima eines Tages den Koranunterricht verpasste, wurde sie ausgepeitscht: Selbst die Erinnerung schmerzt sie so sehr, dass sie gekrümmt fast von der Bank rutscht. Muna, Mohamed und Fatima gelang schließlich die Flucht. Heute leben sie in einem Lager für Vertriebene in Maiduguri.

Für weniger Glückliche hört die Tortur selbst nach der Befreiung nicht auf. Nigerias Militär meint, sich nicht sicher sein zu können, ob die befreiten Geiseln nicht zuvor erfolgreich in Killermaschinen verwandelt wurden: Allein in Maiduguris Giwa-Kaserne werden derzeit bis zu 4000 vermeintliche Boko-Haram-Mitglieder und Ex-Entführte festgehalten, viele sind Frauen und Kinder. Die Zahl der Anschläge scheint den Militärs Recht zu geben: Es vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht irgendwo Mädchen in die Luft jagen. (Johannes Dieterich aus Maiduguri, 16.4.2017)