Die erotische Umtriebigkeit Nebels (Markus Meyer) macht auch vor gestandenen Wirtinnen (Elisabeth Augustin) nicht halt.

Foto: Georg Soulek

Markus Meyer und Marie-Luise Stockinger in Johann Nestroys "Liebesgeschichten und Heiratssachen".

Foto: Georg Soulek

Wien – Das Anwesen des gewesenen Fleischhauers und nunmehrigen Partikuliers Fett dürfte sogar den Vergoldungsprotz Donald Trump in Verwirrung stürzen. Auf der Bühne des Wiener Burgtheaters wird Johann Nestroys Posse "Liebesgeschichten und Heiratssachen2 gegeben.

Vor dem Rundhorizont eines Rummelplatzes hat Ausstatter Volker Hintermeier eine Art Hinrichtungsstätte für Heiratswillige errichtet. Die Landschaft versickert unschlüssig zwischen Stegen und Leuchtgerüsten. Ein Gartenpavillon mit integrierter Wirtsstube ragt einstöckig in den Himmel. Zu ebener Erde regiert ein unmanierlicher Wirt (Peter Matić). Die Aufnäher seiner Jacke weisen ihn als Heavy-Metal-Jünger aus.

Sein Weib (Elisabeth Augustin), eine wahre Proserpina der Gasthöfe, kredenzt den schärfsten Schnaps. Im ersten Stock aber fiedelt ein Streichquintett sehr minimalistisch um Tod und Leben. Über allen prangt das garantiert falsche Emblem: ein knallrotes, leuchtendes Herz.

40.000 Gulden schwer

Zwei junge Herren bemühen sich in Nestroys Posse um zwei Damen, die in Fetts Haushalt als Mauerblümchen verkümmern. Die dritte zur Wahl stehende heiratsfähige Frau ist eine steinreiche alte Jungfer (Regina Fritsch). Lucia Distel besitzt keine Reize, aber ihr schmächtiger, in rosa Seide gehüllter Leib ist 40.000 Gulden schwer. Ihr lebhaftes sexuelles Interesse an dem Lumpenlakaien Nebel (Markus Meyer) verbirgt Distel hinter einer blauen Insektenbrille. Steht ihre Integrität auf dem Spiel, mobilisiert sie die schärfsten Töne, deren das Wienerherz fähig ist.

Nebel aber ist in dieser absolut zeitgemäßen Nestroy-Unternehmung das Instrument des Zorns. Meyer, der über eine wunderbar gedankenklare Suada verfügt, schlüpft wie ein Reptil in die Fleischergrube. Er arbeitet als Nestroys Sprachrohr auf eigene Rechnung. Nebel macht sich die Flausen, die andere sich über das Konzept der Ehe in den Kopf setzen, selbst zunutze. Ein großer Nestroy-Spieler, der die Gesetze von Tradition und Verniedlichung beinhart hinter sich lässt.

Platte Gefühlskultur

Und so kommt man, nach einigen Gemächlichkeiten zum Auftakt, aus dem Staunen nicht heraus. Fett (Gregor Bloéb) gibt im honiggelben Anzug die rülpsende Made im Speck. Sein liebstes Spielzeug ist das gallig grüne Sofa, das er mittels Fernbedienung wie von Geisterhand bewegt. Er spricht ein kurioses Schlachterfranzösisch mit semantischen Fehlzündungen. Sein Reichtum bildet die besten Voraussetzung, um alle Nuancen bürgerlicher Gefühlskultur plattzuwalzen und die Angehörigen zu kujonieren. Chapeau!

Regisseur Georg Schmiedleitner hat "unseren" Nestroy endgültig den heimischen Besitztümlern entwunden. Auf dieser Schlackenhalde gedeihen die giftigsten Neurosen. Jede Figur kultiviert Tics und Tricks, um sich der totalen Kapitalisierung der Verhältnisse (erfolglos) zu erwehren. Da stöckelt Fetts Tochter Fanny (Marie-Luise Stockinger) wie eine Gliederpuppe durch das Serail. Der verarmte Eheanwärter Anton (Martin Vischer) spricht ein zauberhaftes Schweizerisch. Ulrike (Stefanie Dvorak), auf die wiederum der junge Vincelli ein Auge geworfen hat, verleiht ihren Gefühlen vermittels Aphorismen Ausdruck. So fällt sie unversehens in große Sinnlöcher. Eine brillante Rätselstudie in Sachen emotionaler Verkümmerung.

Vollends aus den Fugen gerät Fetts Haushalt, als der Marchese Vincelli (Dietmar König) auftaucht. Er möchte die drohende Durchmischung adeligen Blutes mit bürgerlichem Lebenssaft unterbinden. Fetts Überschwang bringt die Fassade des hochwohlgeborenen Klemmers zum Einsturz. Auch hier: ein Tanz auf Messers Schneide.

Zwei Ehen werden gestiftet. Eine dritte Verbindung geht an den Unbilden des Geldverkehrs zuschanden. Und so galt der losbrechende Jubel vor allem den vergnüglichen Anteilen einer wunderbaren Aufführung. Die Nachwirkung des Gehalts – erst kommt das Fressen, dann die bürgerliche Sexualmoral – nimmt man gern in Kauf. (Ronald Pohl, 14.4.2017)