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Generalanwalt der Genossenschaft Beziehungskiste: Roland Kaiser (hier bei einem Auftritt 2014) begeisterte sein durchaus auch junges Publikum in der Wiener Stadthalle.

Foto: APA/EPA/HENDRIK SCHMIDT

Wien – Während Roland Kaiser in der Wiener Stadthalle im Rahmen seines gut zweistündigen Konzerts einige seiner hinsichtlich Melodie und Text verhaltensunauffälligeren Lieder im trotz Lungentransplantation kräftigen Bariton vorträgt, kann man sich ja auch einmal grundsätzliche Gedanken machen. Bis zum ersten alten Hit Dich zu lieben, bei dem der Saal dann noch vor Santa Maria und dem Fremdgehklassiker Manchmal möchte ich schon mit dir durch die Decke geht, dauert es ja noch eine halbe Stunde.

Also, wie immer in der Kunst kommt es bei deren Wirkungsgrad bekanntlich darauf an, wie sehr man sich auf diese einlässt. Man kann, nur so zum Beispiel, ein Sonett Shakespeares ebenso schätzen wie ein vom lyrisch begabten Onkel verfasstes Geburtstagsgedicht zum 70er von Oma Hans. Man kann monochrome Malerei als rein dekoratives Wandelement in einem Schöner-Wohnen-Katalog deuten. Man kann aber auch ein blau-blau-blaues Bild Yves Kleins als intensive ozeangroße Weltoffenbarung erleben.

Schlagermusikboy

Beim deutschen Schlager verhält es sich nicht viel anders. Der oberflächliche Betrachter mag hier ein rein ökonomisch, also in weiterer Folge zynisch ausgerichtetes Dienstleistergewerbe vermuten. Dessen Protagonisten wollten früher einmal alle Rock 'n' Roller oder zumindest einer von den Duran Durans werden und ihren künstlerischen Gestaltungswilllen wild und frei ausleben.

Sie entdeckten dann aber bald im Rahmen eines Betriebswirtschaftsstudiums, dass sich ein angenehm dekadentes Rockstarleben auch ohne Tätowierungen, Supermodels, dafür aber mit den Haaren schön und mit Auftritten bei Dieter Thomas Heck (für die älteren Leser) oder Florian Silbereisen (für die jungen Leute von heute) finanzieren lässt. Die Drogen sind laut Brancheninsidern ohnehin mindestens so hart wie backstage bei den Stones in den 1970er-Jahren. Dafür hat man es als Schlagersänger weniger mit lästigen Kontrollen beim Check-in für internationale Flüge als mit nächtelangen, anstrengenden Fahrten im Überlandbus durch die deutsche Provinz zu tun.

Schlagermusik als reines Gefühlstool, als Durchhalte-App für aus bescheidenen Verhältnissen kommende, vom Schicksal geschlagene und beladene Menschen gesehen. Trost und Rat mit Reimzwang im Viervierteltakt.

Wir sehen schon, eigentlich findet man zwischen internationalem Pop und Schlager ohnehin kaum Unterschiede, außer dass es im Schlager vermeintlich spießiger und formelhafter und mehr nach Blech als Soul klingend zugeht. Leider versteht man auch noch die Texte, obwohl man weghören möchte – was bei einer Fremdsprache wie Englisch leichter geht. Deshalb vermutet man im ausländischen Musikgeschäft mehr Intelligenz als im hiesigen.

Gesungene Paartherapie

Dieser Regel werden nur wenige Ausnahmen entgegengesetzt. Ehrlich gesagt, zeitgenössischer Schlager mit viel Helene Fischer und Andrea Berg, verhallten Keyboards und böllerndem Drumcomputer im Bauplan ist noch schlimmer, als man es schon in den 1970er-Jahren vermutete.

Dem freundlich gestimmten Hörer hingegen fallen über die Jahrzehnte löbliche Menschen ein, die aus der Art und dem Genre schlagen: Christian Anders, Udo Jürgens, Drafi Deutscher, Howard Carpendale – und wohl auch Roland Kaiser, der sicherlich Unauffälligste in dieser Runde.

Der in der Wiener Stadthalle wie der Generalanwalt der Genossenschaft Beziehungskiste im Maßanzug auftretende 65-jährige Sänger hatte seinen Durchbruch 1980 mit dem Gassenhauer Santa Maria. Seither hat sich SPD-Mitglied und Anti-Pegida-Aktivist Roland Kaiser im Fach der gesungenen Paartherapie, vom Scheitel bis zur Sohle souverän in sich ruhend, zur S-Klasse des Genres entwickelt. Ebenso wie etwa Howard Carpendale verließ er in den letzten Jahren aber auch das Genre in Richtung des gediegenen amerikanischen Formatradiorocks Bon Jovis. Das bekommt seinem durchaus auch jungen Publikum.

Die gut 30 Lieder mit insgesamt drei Stromgitarristen und der wie Tina Turner auftretenden Tina Tandler am Simply the best-Saxofon sind fürs Gleiten statt Hetzen konzipiert. Wir hören amtlichen Rock. Neben dem Klassiker Über sieben Brücken musst du gehen machen auch hauseigene Songs wie Auf den Kopf gestellt oder Ein Leben lang deutlich, dass Kaiser im Gegensatz zu Bon Jovi die besseren Texte hat. Man versteht sie halt leider. Ein Udo-Jürgens-Medley gibt es auch. Grundsolide deutsche Wertarbeit. Genossenschaftsversammlung Wien erfolgreich über die Bühne gebracht. (Christian Schachinger, 5.4.2017)