Clemens Rauhs leitet den Elternverein der Hans-Radl-Schule in Wien-Währing, die sein Sohn besucht.

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Ihr ältester Sohn Johannes, er ist zwölf, kam mit einer Behinderung auf die Welt. Welche Erfahrungen haben Sie als Eltern eines behinderten Kindes bisher mit dem Bildungssystem gemacht?

Rauhs: Grundsätzlich hatten wir den Wunsch, dass unser Kind in ein möglichst inklusives Schulsystem kommt. Wenn man den Prozess des Akzeptierens einer Behinderung hinter sich hat und sagt: Okay, mein Kind wird es schon schaffen, da gibt es ja diese Integrationsklassen, dann ist das ein naheliegender Wunsch. Wir haben durchwegs hochmotivierte, sehr engagierte Pädagogen und Betreuer erlebt, aber es ist immer wieder vor allem an der Ressourcenknappheit gescheitert. Im vorschulischen Integrationsjahr sind Betreuer teilweise über ein halbes Jahr ausgefallen, ohne dass die Position nachbesetzt wurde. Das war schon sehr ernüchternd. Aber jetzt sind wir in der Hans-Radl-Schule sehr glücklich.

STANDARD: Einer Sonderschule.

Rauhs: Ja. In dieser Spartensonderschule werden alle Lehrpläne unterrichtet – Volksschule, Neue Mittelschule, allgemeine Sonderschule und für erhöhten Förderbedarf. "Sonderschule" ist eine unglückliche Bezeichnung. Mittlerweile heißt die Schule "Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik". Das Wort "Sonder-" gibt immer einen negativen Stempel drauf. Es wäre schöner, würde man "besonders" statt "Sonder-" sagen. Deshalb gibt es wohl auch die Diskussion um die Abschaffung der Sonderschulen.

STANDARD: Warum diese Schule?

Rauhs: Weil uns diverse Volksschulen mit Integrationsklassen abgelehnt haben, de facto wegen der Ressourcen. Wenn man das erste Mal in die Hans-Radl-Schule kommt – ich sag's offen -, schluckt man schon, weil es dort viele Kinder im Rollstuhl, mit Stützapparaten, Sitzhilfen und komplexen Behinderungen gibt. Aber wir erleben dort, dass unser Sohn sehr gut gefördert wird und psychisch wesentlich stabiler geworden ist. Wir haben halt das Glück, dass wir das inklusive Setting zu Hause leben können. Johannes hat drei Geschwister, er wächst in einem normalen Umfeld auf, wir nehmen ihn relativ viel mit. Das Einzige, was ich lange Zeit nicht gemacht habe, ist, in ein Hotel zu fahren, weil man permanent schief angeschaut wird und irgendwann alles nicht mehr aushält. Seitdem miete ich im Urlaub ein Privathaus.

STANDARD: Wo stehen Sie zur Frage Abschaffung der Sonderschulen? Die Bildungsministerin will sie bis 2020 zur Ausnahme machen, die Familienministerin will Wahlfreiheit für Eltern, die Lehrergewerkschaft ist gegen Abschaffung, weil sie meint, Inklusion ohne adäquate Ressourcen überfordere alle.

Rauhs: Ein generelles Abschaffen der Sonderschulen bis 2020 halte ich aus heutiger Sicht für nicht möglich. Das Problem ist, dass es sicherlich viele Kinder in Sonderschulen gibt, die eine Lernschwäche oder Teilleistungsschwächen haben, die mit dem Sonderschulstempel wirklich stigmatisiert und nachhaltig am Arbeitsmarkt benachteiligt werden. Das gehört möglichst schnell beseitigt, indem man diese Kinder viel besser ins Regelschulwesen integriert. Da ist dann die Frage, welches Benotungs- und Lernzielsystem haben wir in Zukunft. Vielleicht ist unser jetziges System einfach falsch, wo alle in jeder Schulstufe dasselbe lernen und nach Noten klassifiziert werden. Wenn man aber sagt, man nimmt die Besseren aus der Sonderschule raus, dann besteht die riesige Gefahr, dass in der Sonderschule wirklich sozusagen der harte Kern mit schweren, komplexen Behinderungen übrig bleibt. Das wäre eine furchtbare Entwicklung.

STANDARD: Was also tun?

Rauhs: Das Wichtigste ist, dass individuelle Förderung sichergestellt wird. Wo die passiert, ist den meisten Eltern egal. Mir geht's nicht darum, wie die Schule heißt. Es darf nur kein Einsparungsprogramm unter dem Deckmantel Inklusion sein. Im Gegenteil. Man wird in dem Bereich noch mehr investieren müssen.

STANDARD: Welche bildungspolitischen Maßnahmen wären wichtig?

Rauhs: Die größten Lücken sehe ich bei der richtigen Mittelzuteilung. Die sind im sonderpädagogischen Förderbedarf teilweise sehr knapp bemessen, der Förderbedarf gehört wesentlich individueller festgestellt. Es gibt wirklich sehr förder- und betreuungsintensive Kinder, die etwa aus Aufmerksamkeits- und Lärmpegelgründen nur eine Klasse mit fünf Schülern schaffen. Das muss man einfach akzeptieren. Oder wir reden immer von Ganztagsschule. Die Nachmittags- und Ferienbetreuung könnte besonders inklusiv sein. Dass jemand, wenn es um Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Kochen oder Uhrzeitlesen geht, in einem speziellen Set-up beschult wird, ist ja keine Verweigerung der Inklusion, eher eine Anerkennung der besonderen Förderungswürdigkeit, auf die jeder Mensch mit Behinderung ein Recht haben sollte. Es wäre Schönrederei, zu sagen: Er hat eh nichts, er kann mitlaufen, er kriegt einen Stützlehrer und sitzt daneben, wenn die anderen in Mathematik differenzieren. Dieses Kind hat nix davon. Wir müssen das Thema ganzheitlich sehen.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Rauhs: Wenn jemand sehr begabt ist, wird er im heutigen System wahrscheinlich auch nicht adäquat gefördert und wird gegebenenfalls sogar verhaltensauffällig, weil er zu wenig gefordert ist. Individualisierung des Unterrichts brauchen wir nicht nur für Kinder, die vielleicht eine Behinderung haben und deshalb besonders sind, sondern auch bei besonders analytisch, sprachlich oder sonst wie begabten Menschen. Diese Notwendigkeit einer Toleranz zueinander geht in beide Richtungen, weil es wichtig ist, dass unterschiedliche Begabungsgruppen in der Gesellschaft viel miteinander zu tun haben.

STANDARD: Zurzeit haben behinderte Kinder nur ein Recht auf ein zehntes Schuljahr. Ihre Position dazu?

Rauhs: Wir möchten eine Mindestlerndauer von zwölf Jahren. Fairer wären 14 Jahre, weil jeder andere Schüler, der etwa eine AHS besucht, die Möglichkeit hat, zwölf Jahre in die Schule zu gehen, zweimal durchzufallen, und noch immer zur Matura antreten darf. Er hat das Recht auf 14 Jahre Schule. Warum soll jemand, der eine Behinderung hat und manches oft einfach erst später lernt, nicht dieses Recht haben? Auch im neuen Schulautonomiepaket ist keinerlei Recht auf ein elftes und zwölftes Schuljahr für behinderte Schüler vorgesehen, sie bleiben weiterhin Bittsteller und auf das Wohlwollen des Schulerhalters angewiesen.

STANDARD: Sie sind Jurist, haben das Schulautonomiepaket analysiert – was fiel Ihnen auf, was fehlt?

Rauhs: Der Entwurf lässt in keinster Weise erkennen, wie künftig eine qualitätsvolle Beschulung von Menschen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf, insbesondere mit schweren Behinderungen, gewährleistet werden kann. Auch eine notwendige Migration zu einem anderen System ist für mich nicht erkennbar. Und ein Praxisvorschlag aus eigener Erfahrung: Derzeit stellen drei Stellen fest, dass ein Kind eine Behinderung hat: das Sozialministerium für die doppelte Familienbeihilfe, die Pensionsversicherungsanstalt für das Pflegegeld und der Stadtschulrat für den sonderpädagogischen Förderbedarf. Warum zentralisiert man das nicht professionell? Man rennt von einer Stelle zur nächsten, erzählt überall dasselbe und verursacht damit hohen Verwaltungsaufwand und Mühen bei den Betroffenen.

STANDARD: Was brauchen Eltern behinderter Kinder noch unbedingt?

Rauhs: Es ist wichtig, dass es beim Ausfall eines Lehrers weiter eine gute Betreuungssituation gibt. Familien mit einem behinderten Kind, oft alleinerziehende Mütter, sind rund um die Uhr gefordert, die können nicht 15 Leute anrufen und sagen: Du nimmst mein Kind. Da gibt es zwei, drei Leute, die du bei schweren Behinderungen fragen kannst. Darum muss das Backup-System perfekt funktionieren.

STANDARD: Sie und Ihre Frau haben den "Verein Apfelbaum – leben inklusiv" gegründet. Was ist die Idee dahinter?

Rauhs: Wenn man ein behindertes Kind hat, beschäftigt man sich natürlich mit den Fragen: Wo geht er in die Schule, was wird er später machen, wo wird er arbeiten, wo wird er sein, wenn ich einmal nicht mehr bin? Wir würden gern etwas schaffen, wo unser Sohn nachhaltig in einem offenen Setup wohnen kann und wir auch einmal aus der klassischen Elternrolle entschwinden können. Mit dem Apfelbaum-Projekt, das in unmittelbarer Nähe vom Yppenplatz realisiert wird, möchten wir ermöglichen, dass eine größere Gruppe behinderter Menschen möglichst inklusiv, nicht am Stadtrand, sondern mitten in der Stadt mit Menschen ohne Behinderung zusammenleben kann.

STANDARD: Was hat es für Sie und Ihre Frau eigentlich bedeutet, ein behindertes Kind zu bekommen?

Rauhs: Es ist schon sehr schwierig, vor allem, weil man nicht weiß, wohin es sich entwickelt. Auf Kinderpartys waren wir nicht oft eingeladen. Johannes gibt irrsinnig viel Freude, kostet aber auch viel Kraft. Er hat einen sechsten Sinn, er kommt in einen Raum und weiß, wie die Stimmung ist. Und er ist wahnsinnig ehrlich. (lacht) Das ist schön und schwierig, zumal in unserer Gesellschaft, wo es wenig Verständnis gibt. Es ist unglaublich, wie ignorant die Leute zum Teil sind. Wenn er jemanden angeredet oder angetupft hat, weil er das gewohnt war, kamen wirklich aggressive Meldungen. Seien wir ehrlich, die ganze Debatte um Pränataldiagnostik – warum macht man es? Ich kenne ganz wenige Leute, die ein Kind mit Behinderung akzeptieren würden. (Lisa Nimmervoll, 3.4.2017)