Wien – Heute lebt Ferdinand in einer kleinen Wohnung in Wien. Ein Zimmer hat sein Zuhause. Dazu kommen eine kleine Küche und ein Bad. Inklusive Strom und Gas bezahlt er monatlich 300 Euro dafür. "Ich kann die Tür zusperren und habe meine Ruhe", sagt er. Sein Rückzugsort ist das vorläufige Happy End seiner Geschichte. Dreieinhalb Jahre hat Ferdinand zuvor in "ungenügenden Wohnverhältnissen" verbracht – also in Notschlafstellen, Übergangswohnheimen und Tageszentren. Ein halbes Jahr davon hat er auf der Straße geschlafen.

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2010 muss es gewesen sein, als er seinen Job verloren hat, erzählt Ferdinand. Sein Vater war damals schwer krank. Ferdinand zog bei ihm ein, um ihn zu pflegen. Zur selben Zeit etwa sperrte die Firma, bei der Ferdinand arbeitete, zu. Kurz nach dem Tod des Vaters noch ein Schicksalsschlag: Sein Bruder und dessen Familie starben bei einen Autounfall auf dem Weg nach Klosterneuburg.

Für den heute 52-Jährigen war das zu viel. Er fiel in ein Loch, öffnete keine Briefe, hatte Schulden und auf nichts mehr Lust. Der gebürtige Wiener wurde delogiert. "Wenn das passiert, verliert man fast alles", sagt er.

Ferdinand wartet vor einer Polizeistation in der Wiener Wattgasse. Seine grauen Haare sind nach hinten gekämmt, der Schnauzer gestutzt. Die ersten drei Knöpfe des blauen Hemds sind offen, an den Ärmeln knittert es ein wenig. Darüber trägt Ferdinand mehrere Gilets geschichtet, um den Hals baumelt sein Namensschild. Die Wache ist der Startpunkt seiner Tour im Rahmen von "Supertramps", bei der er durch den 17. Wiener Gemeindebezirk führt und über die Zeit auf der Straße erzählt. Bei dem Spaziergang durch seine Lebensgeschichte begleiten ihn "völlig unterschiedliche Leute": Touristen, Schulklassen – jeder kann einen Rundgang buchen mit ihm.

Der Ende 2015 gegründete Verein Supertramps organisiert von obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen geführte Stadtrundgänge durch Wien. Die Touren sollen den Alltag ohne Wohnsitz "erfahrbar machen" und Wissen darüber vermitteln.

Wien aus Sicht der Obdachlosen: Seit 2015 gibt es vom Verein Supertramps organisierte Führungen.
Foto: Maria von Usslar

Neben Ferdinand führen fünf weitere Guides durch ihre Bezirke. Jeder Rundgang, der vom Verein und Obdachlosen gemeinsam gestaltet wird, setzt einen anderen Schwerpunkt. "Wir führen zu öffentlichen Plätzen und Straßen, die man auf einer klassischen Tour nicht zu sehen bekommt, und zeigen Wien aus der Sicht eines obdachlosen Wieners", sagt Teresa Bodner von Supertramps. Die Guides bekommen pro Führung zwischen 20 und 25 Euro, je nachdem, ob sie staatliche Unterstützung beziehen, oder nicht.

Keine Zahlen

Ferdinand hat drei Jahre in ungenügenden Wohnverhältnissen gelebt. Ein halbes Jahr davon auf der Straße. Jetzt führt er ehrenamtlich Touristen, Schulkassen und Einzelpersonen durch Hernals.
Foto: Raoul Kopacka

Wie viele Menschen in Wien akut obdachlos sind, ist unklar. Es gibt keine offizielle Statistik. "Obwohl Streetworker versuchen Kontakt aufzubauen, nutzen nicht alle Menschen die Angebote der Wiener Wohnungslosenhilfe", erklärt man beim Fonds Soziales Wien die fehlenden Zahlen. Mehr als 10.000 Menschen nutzen pro Jahr die Angebote in Wien. Die Zahl inkludiere aber auch alle, die bereits wieder in einer eigenen Wohnung wohnen und nur noch mobile Betreuung benötigen.

"Grundsätzlich" sei es "begrüßenswert, dass Initiativen wie diese auf die Lebenssituation obdachloser Menschen aufmerksam machen", sagt Kurt Gutlederer, Leiter der Wiener Wohnungslosenhilfe im Fonds Soziales Wien. Dabei sei es aber wichtig, dass die "Würde der Betroffenen" gewahrt werde. Genau das passiere, sagt Bodner, man grenze sich "klar von Voyeurismus ab: Im Mittelpunkt unserer Touren steht die persönliche Geschichte des Guides."

Neben dem Wunsch, das Bewusstsein in der Gesellschaft zu stärken, gehe es auch darum, den Obdachlosen eine Verantwortung zu übergeben. "Der Guide muss verlässlich erscheinen. Eine Gruppe mit 15 Leuten kann man nicht unabgeholt stehen lasssen."

In der Bundeshauptstadt gilt die Wiener Kampierverordnung, erklärt Ferdinand vor der Polizeiwache. Sie verbietet das Aufstellen und das Benutzen von Zelten sowie von Schlafsäcken. "Wenn man aber auf abgelegene Plätze geht, kann man dort gut schlafen".

Mit Kampieren hat Alexander Erfahrung. Der 23-Jährige beginnt seine Tour vor der Notschlafstelle in der Gudrunstraße. "Hier war mein erstes Bett in Wien. Davor habe ich im Zelt geschlafen – in Liesing, am Handelskai oder in der Seestadt." In die Quartiere hineinzuschauen ginge für die Guides zu weit. Es würde die Menschen dort in ihrer Privatsphäre stören. Die Gruppe bleibt vor der Tür.

Rund 67 Millionen Euro hat die Stadt Wien 2016 für die Wohnungslosenhilfe aufgewendet. Damit wurden knapp 6000 Wohn-, Schlaf- und Betreuungsplätze in 100 Einrichtungen finanziert sowie Tageszentren und Straßensozialarbeit. Rund 300 Nachtquartierplätze gibt es ganzjährig. Im Winter werden diese Kapazitäten aufgestockt.

Alexander hat keinen fixen Wohnsitz. Er schläft in Notschlafstellen.
Foto: Maria von Usslar

Auf Ferdinands Tour geht es weiter zu einem Pfarrheim mit einem Tagesheim. Dort erklärt er das Problem vieler Obdachloser: Notschlafstellen öffnen oft erst gegen 18 Uhr am Abend, um 22 Uhr schließen sie und um acht müssen die Übernachtungsgäste wieder raus. Tagsüber halten sich viele gerade in den Wintermonaten in einem Tagesheim auf – auch, weil man sich dort melden kann und so seine amtlichen Briefe dorthin zugestellt bekommt und sich waschen und die Toiletten benutzen kann. Ein Anlaufpunkt für letztere Bedürfnisse waren für Ferdinand auch immer Einkaufszentren. Ein Stopp wird bei einem Möbelhaus eingelegt. "Wenn man den Verkäufern sagt, man will sich nur umsehen, wird man schnell in Ruhe gelassen", erzählt er. Manchmal hat er sich auch einfach nur auf Sofas gesetzt, um das Gefühl des Wohnens wiederzubekommen.

Aufgabe für Tourteilnehmer

Alexander ist mit dem Fahrrad vor dem Ukraine-Konflikt nach Wien geflohen. "Ich habe schon von Kindheit an den Traum, in Wien zu studieren und zu leben", sagt der Künstler und Restaurator den Tourteilnehmern, die ein weißes Blatt von ihm bekommen – nach jeder Station sollen sie einen Knick falten. Etwa zwei Stunden dauert eine Führung. Am Ende haben Alexanders Gäste einen Origami-Schmetterling in der Hand. Er soll an den Freiheitswunsch des Ukrainers erinnern.

Ferdinand beendet seinen Spaziergang vor einem Übergangswohnheim. Es markiert den Anfang eines neuen Kapitels seines Lebens. Hier hatte er nach seiner Obdachlosigkeit erstmals wieder ein fixes Dach über dem Kopf: "Das Leben auf der Straße war eine Situation, in die ich nie wieder kommen möchte und ich werde alles dagegen tun, dass es wieder passiert." (Oona Kroisleitner, Raoul Kopacka, Maria von Usslar, 2.4.2017)