Regisseur Alvis Hermanis sieht die Europäische Union in Gefahr: "Es muss Kompromisse geben."

Foto: Andy Urban

STANDARD: Sie haben letzten Sommer dieser Zeitung gesagt, dass die Musik von Richard Strauss für Sie "eine Art legales LSD" sei. Wie hat die Musik von Wagners Parsifal auf Sie gewirkt?

Hermanis: Wagners Parsifal ist für mich eine meditative Musik. Wie wir wissen, wollte Wagner das Werk nicht als eine normale Oper verstanden wissen, sondern mehr als eine spirituelle Erfahrung.

STANDARD: Und worüber wird da meditiert: über den Sinn des Lebens, über Religion, Schuld?

Hermanis: Die Musik berührt jeden Hörer individuell. Meine Inszenierung bezieht sich auf mich, ich denke an meinen eigenen Gral, mein eigenes kümmerliches Leben – und daran, wie ich es verbessern kann. Wir proben Parsifal jetzt schon einige Wochen, und ich spüre, wie sich mein Geist öffnet. Da ist eine klösterliche Ruhe und Reinheit in dieser Musik.

STANDARD: Wie sieht Ihre Sichtweise "Parsifal" konkret aus?

Hermanis: Ich hatte die Idee, das Geschehen in das Wien des Fin de Siècle zu verlegen, ins Otto-Wagner-Spital. Wien war in dieser Zeit ein Labor der Moderne, das Silicon Valley unserer Zeit. In der Literatur, der Medizin, den Sozialwissenschaften, der Musik, der Malerei: Auf allen diesen Gebieten wurde damals gewissermaßen nach einem Gral gesucht. Aber es gab auch viel Verstörendes in dieser Zeit: Der Materialismus nahm zu, Spiritualität wurde unwichtiger. Und darum geht es in Parsifal: Um zum Gral zu kommen, zur Erlösung, braucht man die vertikale Dimension der Spiritualität.

STANDARD: War ein Grund für die Verlegung der Handlung in ein psychiatrisches Spital der, dass sich die Personen in diesem Stück zum Teil ziemlich bizarr verhalten?

Hermanis: Die Geschichte dreht sich um die Gemeinschaft der Gralsritter, die krank ist, die nach Heilung sucht. Deswegen macht es Sinn, sie in eine Nervenklinik zu versetzen. Gurnemanz und Klingsor sind hier die Ärzte, die anderen sind Patienten dieser Klinik. Gurnemanz therapiert eher mit homöopathischen Mitteln, Klingsor ist ein zynischer Charakter. Kundry wäre mit ihrer Hysterie wohl eine perfekte Patientin für Sigmund Freud gewesen ... Ein weiterer Grund, warum das Otto-Wagner-Spital für den Parsifal so gut passt, ist die Kirche, die im Zentrum des Geländes steht. Otto Wagner hatte ursprünglich die Idee, sie zu einem Komplex für unterschiedliche Religionen auszubauen. Was wiederum zu Parsifal passt, denn Richard Wagner hatte ja auch die Ambition, dem Werk eine universell-religiöse Komponente zu geben.

STANDARD: Sie wurden 1965 in Riga geboren, sind in der Sowjetunion groß geworden. Wie haben Sie diese erlebt?

Hermanis: Ich hatte Glück: Ich habe meine Ausbildung an der Schauspielschule genau zu dem Zeitpunkt abgeschlossen, als es mit der Perestroika angefangen hat. Deswegen hatte ich beruflich nie unter Restriktionen zu leiden. Wir Letten sind eine kleine, aber stolze Nation. Manchmal sage ich etwas Kontroversielles, aber es ist für einen Letten sehr natürlich, eine klare Meinung zu haben.

STANDARD: 2015 gab es eine riesi- ge Aufregung, nachdem Sie eine Arbeit am Hamburger Thalia Theater abgesagt haben, weil Sie die Refugees-welcome-Aktivitäten dort nicht gutgeheißen haben. Ist es für Sie nachträglich eine Bestätigung Ihrer damaligen Skepsis, wenn die deutsche und auch die österreichische Regierung mittlerweile eine restriktivere Flüchtlingspolitik machen?

Hermanis: Das ist es. Wenn ich heute eine Wiener Zeitung lese, dann sehe ich, dass meine Sicht von damals heute Regierungspolitik ist. Die Zeitungen von Deutschland erinnern mich hingegen immer noch an die der Sowjetunion: Wenn jemand eine abweichende Meinung hat, dann wird er zum Feind. Für die Deutschen scheinen im Moment ja fast alle zum Feind zu werden: Großbritannien nach dem Brexit, die USA mit Trump, Polen, die Türkei, Russland ... Meiner Meinung nach gibt es im Moment in den meisten Nationen zwei Gruppen: Die einen betrachten die Globalisierung, die Öffnung der Grenzen als etwas Gutes, die anderen wollen die Grenzen, die nationale Identität behalten. Beide Gruppen müssen Kompromisse finden, es geht nicht anders.

STANDARD: Wie sehen Sie die Europäische Union in zehn Jahren?

Hermanis: Vor kurzem wurde Donald Tusk zum zweiten Mal zum Präsidenten des Europäischen Rats gewählt – gegen den erklär-ten Willen Polens. Das war alles andere als ein Zeichen der Kompromissbereitschaft gegenüber Polen. Man kann doch die polnische Regierung nicht einfach ignorieren und mit ihr die Mehrheit der Polen, die diese Regierung gewählt hat. Das und vieles andere macht mich pessimistisch. Meiner Meinung nach ist die Europäische Union in Gefahr. (Stefan Ender, 30.3.2017)