Der gesamte Bauplan des menschlichen Körpers lässt sich mit Computern entschlüsseln. In den riesigen Datenmengen aus Milliarden Nullen und Einsen wird nach krankmachenden Konstellationen gesucht.

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Wie Dartsspielen mit verbundenen Augen – so beschreibt Bonnie J. Addario, wenn Behandlungsentscheidungen getroffen werden, ohne die genetische Zusammensetzung eines Krebses zu kennen. Addario, US-Amerikanerin und einst selbst Lungenkrebspatientin, ist Gründerin einer nach ihr benannten Stiftung, deren Ziele die Förderung von Forschung, Früherkennung, Prävention und Bildung rund um das Thema Lungenkrebs sind. Freiwillige, Ärzte und Überlebende helfen Patienten dabei, durch das amerikanische Gesundheitssystem zu navigieren, um für jeden Einzelnen die richtige Behandlung zu finden.

Einer dieser Patienten ist Jeff Julian. Braungebrannt, mit strahlendem Lächeln und einem etwas zu groß geschnittenen Anzug sitzt der Anfang 40-Jährige auf einem hohen Stuhl und erzählt Journalisten aus ganz Europa seine Geschichte. "Ich habe nicht einen Tag in meinem Leben geraucht und bin sportlich", erzählt Julian, der einst Mitglied im olympischen Schwimmteam der USA war.

2015, er war 39 Jahre alt, wurde ein Lungenkarzinom im Stadium IV mit 27 Metastasen diagnostiziert. "Die Ärzte gaben mir noch sechs bis zwölf Monate", so Julian. Doch dann half ein genetischer Test seinen Ärzten, Behandlungsoptionen zu finden, die genau gegen seinen Krebs gerichtet waren.

Monoklonaler Antikörper

Er nahm an einer klinischen Studie teil, bekam monoklonale Antikörper wie Ipilimumab und Nivolumab, und die Tumoren gingen deutlich zurück, zurzeit ist seine Krankheit unter Kontrolle. "Ich fühle mich gesund und führe ein normales Leben", sagt Julian, der an seiner alten Universität als Schwimmtrainer arbeitet.

Um diese Geschichte zu erzählen, ist Jeff Julian nach Boston gekommen, in jenes Institut, das sein Tumorgewebe seinerzeit genetisch untersucht hat. Foundation Medicine heißt das ehemalige Start-up, an dem seit 2015 der Schweizer Pharmakonzern Roche die Anteilsmehrheit hat. "Hip", denkt sich, wer die Räume betritt. Bunte Möbel, offene Räume, kaum ein Mitarbeiter ist älter als 30.

"Hier in Boston, wo die Elite der Welt in Harvard und am MIT studiert, muss man seinen Mitarbeitern etwas bieten, damit sie bleiben", erklärt ein junger Mann, der durch die Labors führt. 100.000 bunte Kaugummis in Zuckerldosen sind im November über alle Räume verteilt – als eine Art Belohnung für die Mitarbeiter. "Damit feiern wir, dass wir bisher 100.000 Patientenproben sequenziert haben", erklärt ein Mitarbeiter. Viele weitere sollen es noch werden, hier arbeitet man auch am Wochenende.

Möglich machte die Arbeit von Foundation Medicine die Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2001. Weil alle Abläufe im Körper genetisch gesteuert werden, sind für jede Krankheit vererbte oder erworbene genetische Grundlagen vorhanden, auch bei Krebs. "Wir wollen jede einzelne Krebserkrankung mit den dafür verantwortlichen Genmutationen verstehen", sagt Steven Kafka, Geschäftsführer von Foundation Medicine.

Gen-Analyse als Service

Das Unternehmen ist weltweit das erste, das Krebspatienten einen umfassenden Gen-Analyse-Service bietet. Aber auch in Österreich wird Tumorgewebe bereits genetisch getestet, um die ideale Therapie für Patienten zu identifizieren, etwa am Comprehensive Cancer Center der Med-Uni Wien. Bei Foundation Medicine in Boston wurden bis dato bereits 170 Proben von Patienten aus Österreich untersucht.

Konkret läuft das so: Per Post oder Botendienst schicken Pathologen Tumorgewebe- oder Blutproben nach Boston, Gewebeproben müssen mindestens 1,6 Kubikmillimeter groß sein. Innerhalb einer Woche werden sie analysiert. Beim ersten von Foundation Medicine entwickelten Test werden 315 Gene auf Mutationen untersucht, bei einem zweiten Test für Blutkrebs sind es sogar 625 DNA- und RNA-Bestandteile.

Weil bei vielen Patienten, etwa jenen, die an Lungenkrebs leiden, die Entnahme von Tumorgewebe sehr schmerzhaft oder gar nicht möglich ist, wird bei Foundation Medicine auch Blut untersucht – genauer gesagt, die darin vorhandene DNA des Tumors – bei diesem Test werden 62 DNA-Abschnitte analysiert.

"Das erweitert die Behandlungsmöglichkeiten enorm", sagt Vincent Miller. Der Lungenkrebsspezialist war 20 Jahre am Memorial Sloan-Kettering Cancer Center in New York tätig und ist heute Chefarzt bei Foundation Medicine. Er erzählt: "Wenn nicht genug Tumorgewebe vorhanden ist, ruft der Pathologe oft an und fragt uns, worauf er es testen soll. Diese Entscheidung ist wie russisches Roulette." Deshalb bringt die Option, Blutproben zu testen, eine große Erleichterung für Ärzte und Patienten.

Analyse für 3500 Euro

Nach etwa 14 bis 18 Tagen ist die genetische Analyse abgeschlossen, und der behandelnde Arzt bekommt eine Aufstellung der registrierten genetischen Tumorcharakteristika. Die Spezialisten von Foundation Medicine teilen ihm auch mit, auf welche Krebsmedikamente der Tumor vermutlich am besten ansprechen wird.

"Die Information, die an den Arzt geht, muss einfach sein und sich in den Alltag integrieren lassen", sagt Kafka. Eine eindeutige Handlungsempfehlung findet sich im Bericht allerdings nicht: "Wir wissen nicht alles über den Patienten, er hat vielleicht eine Leber, die nicht mehr gut funktioniert. Aber unser Bericht unterstützt den Arzt und gibt ihm die Möglichkeit, eine fundiertere Entscheidung zu treffen", so Miller.

Und schließlich erhält der behandelnde Arzt auch Angaben darüber, was über diese individuell vorliegende Krebsform in der wissenschaftlichen Literatur zu finden ist und wo derzeit klinische Studien dazu ablaufen, an denen der Patient eventuell teilnehmen könnte. Die komplette Analyse durch Foundation Medicine kostet umgerechnet etwa 3500 Euro.

Behandlung nach spezifischer Mutation

In den meisten Fällen wenden sich Ärzte und Patienten an Foundation Medicine, wenn herkömmliche Therapien, die nach den Leitlinien der jeweiligen Krebsart empfohlen werden, nicht mehr wirken. "Bisher war Chemotherapie stets erste Wahl. Sie kann auch sehr wirksam sein, man weiß allerdings nicht, wem sie hilft und wem nicht. Dennoch werden alle Patienten gleich behandelt", sagt Garret Hampton, der bei Roche in San Francisco die Erforschung von Krebs-Biomarkern leitet.

Medikamente und Therapieverfahren wie etwa die Strahlentherapie treffen auf vorgegebene Bedingungen und kommen aus einer Zeit, in der Kranke nach den Durchschnittsergebnissen aus klinischen Studien mit tausenden Patienten behandelt wurden. "Vor 2003 haben wir Krebs nach seiner Lage im Körper behandelt, heute wissen wir viel genauer, welche Art von Krebs ein Patient hat", sagt Hampton.

Die genetischen Tests machen es möglich, einen Krebs nicht nach dem Organ, sondern nach einer spezifischen Mutation zu behandeln. Untersuchungen haben gezeigt, dass Tumoren, obwohl sie in unterschiedlichen Organen auftreten, dieselben Mutationen aufweisen können.

Organübergreifende Merkmale

Die klassischen organspezifischen Einteilungen von Krebserkrankungen werden dadurch teilweise ungültig. Bei einem nichtkleinzelligen Lungenkarzinom etwa kann eine Mutation im EGFR-Gen, ALK- oder MET-Gen auftreten. Eine EGFR-Mutation kann allerdings auch in einem Dickdarmkarzinom vorkommen. Ein Patient mit einem Lungenkarzinom mit EGFR-Mutation sollte demnach auch auf ein Medikament ansprechen, das bei einem Patienten mit Dickdarmkarzinom mit EGFR-Mutation wirkt.

Patienten, für die es bisher also keine wirksame Behandlung mehr gab, kann durch einen genetischen Test ihres Tumors ein Medikament verschrieben werden, das schon auf dem Markt ist, aber bisher nur bei anderen Krebsarten eingesetzt wurde. Dass es funktioniert, zeigt der Fall einer Amerikanerin, von der Kafka berichtet. Nachdem bei der Patientin 2012 im Alter von 37 Jahren ein metastasiertes kolorektales Karzinom diagnostiziert wurde, erhielt sie mehrere Chemotherapien und wurde operiert. Als die Krankheit zwei Jahre später mit Metastasen in Knochen und Lunge zurückkehrte, erhielt sie erneut eine Chemotherapie.

Bei einem genetischen Test wurde bald danach eine Gen-Veränderung entdeckt, die eigentlich typisch für Brustkrebs ist. Sie wurde in eine klinische Studie aufgenommen und im Zuge dessen mit einem Medikament behandelt, das für Brustkrebs zugelassen ist. Ihr Krebs hat sich nachhaltig zurückgebildet.

Daten für die Forschung

"Wir wollen nicht nur ein medizinisches Informationsunternehmen für Patienten, sondern auch für die biopharmazeutische Industrie sein", sagt Kafka. Die Ergebnisse der genetischen Tests sammelt sein Unternehmen in einer Datenbank mit dem Namen FoundationCORE. "Wir können Äpfel mit Äpfeln vergleichen, weil unsere Datenbank gefüllt ist mit mehr als 100.000 Patientenfällen, sie ist eine der größten Sammlungen von Tumorprofilen weltweit", sagt Kafka. Die Daten werden dazu verwendet, die Forschung im Bereich der personalisierten Medizin voranzutreiben.

Unzählige Patienten weltweit könnten von solchen genetischen Tests ihrer Tumoren profitieren. So gehen Experten davon aus, dass bei 73 Prozent der Melanomerkrankungen in den bösartigen Zellen Mutationen vorliegen, die mit speziell dagegen gerichteten Wirkstoffen behandelt werden könnten.

Bis zu ein Drittel der Brustkrebspatientinnen bräuchte keine Chemotherapie, wenn ihre Erkrankungsform per molekularbiologischem Test im Voraus untersucht würde. Bei der myeloischen Leukämie hat allein das erste zielgerichtete Medikament vor Jahren die Fünf-Jahres-Überlebensraten verdoppelt. Durch personalisierte Medizin hat sich die Rate jener Dickdarmkrebspatienten, die länger als fünf Jahre überleben, um 15 Prozent erhöht.

"Schon jetzt werden zahlreiche Medikamente nur mit vorhergehenden genetischen Tests zugelassen, in Zukunft wird das noch viel häufiger der Fall sein. Wie wir Krebs behandeln, verändert sich gerade grundlegend", sagt Kafka, und auch Hampton stimmt zu: "Wir sind mitten in einer Revolution." (Bernadette Redl, CURE, 19.5.2017)