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Der Mensch kann dem Zeitgeist begegnen, indem er gegen den Strom schwimmt, glauben Experten.

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Die Beschleunigung aller Lebensäußerungen des Menschen und Lieblosigkeit ohne Denken an die Konsequenzen scheinen die Welt derzeit zu bestimmen. Erschöpfungszustände und Suchtverhalten sind oft die Folgen davon. Mit diesen Themen beschäftigt sich ein Symposium des Instituts für Sozialästhetik und psychische Gesundheit der Sigmund Freud Privatuniversität kürzlich in Wien.

"Es gibt mehrere Zeitgeister, die uns durch den Kopf geistern", sagte der Leiter des Instituts, der Wiener Psychiater und Suchtexperte Michael Musalek. Das Fatale am sogenannten Zeitgeist, wie der Experte betonte: "Er wirkt, obwohl er uns gar nicht so bewusst ist."

Trotzdem hätten unterschwellige Geistesströmungen einen enormen Einfluss auf Gesellschaft und Politik. Musalek nannte Lieblosigkeit im Umgang mit anderen Menschen als ein Beispiel. "Die massive Lieblosigkeit des Herrn Trump wird eigentlich nicht thematisiert", sagte er. Die bloß oberflächliche Diskussion über von dem US-Präsidenten verbreitete Unwahrheiten greife demnach zu kurz.

Existenzängste

Ein zweites bestimmendes Phänomen der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung sei die rasante Beschleunigung aller Abläufe samt ständiger Erreichbarkeit des Menschen via Handy. "Technische Beschleunigung, soziale Beschleunigung, Beschleunigung des Lebenstempos mit Verkürzung sogar von Essens- und Schlafenszeit", führte der Psychotherapeut Martin Poltrum mit Verweis auf Philosophen und Psychologen (etwa Hartmut Rosa) bestimmende Tendenzen an. Wenn die Menschen mit ständig wechselnden "Lebensabschnittspartnern" zurecht kommen müssten und davon auszugehen haben, dass sie in ihrem Leben zwei, drei oder noch mehr Berufe erlernen müssten, könne man sich gut vorstellen, dass Existenzängste um sich griffen.

Die psychischen bzw. psychiatrischen Konsequenzen werden immer deutlicher. Poltrum und Musalek führten dazu primär Burn-out-Zustände an. Dies entspreche der bereits aus den 1920er-Jahren bekannten "Neurasthenie", die damals offenbar die Folge der ersten Phase massiver Beschleunigung durch Eisenbahn, Elektrizität, moderne Medien, etc. gewesen sei. Die Diagnose: "Eine Art kollektive Erschöpfung" trotz wachsender Möglichkeiten erhöhter Effizienz, etwa durch Internet, E-Mail, Luftfahrt, etc. "Wir müssten eigentlich enorm Zeit sparen. Aber wir haben immer weniger Zeit", sagte Poltrum.

Sucht als Ausstiegsmöglichkeit

Auch Suchtverhalten könne als mehr oder weniger hilfloser Ausweg erscheinen, sagte Musalek. "Es ist kein Zufall, dass die Suchtproblematik da eine große Rolle spielt. Das ist für viele Menschen eine Ausstiegsmöglichkeit, die sicher keine Lösung darstellt. Das sind die Leute, die auf ein 'Afterwork-Achterl' gehen." Bluthochdruck und andere somatische Störungen seien ebenfalls die Folge.

Die Experten, so auch die Gesundheitspsychologin Ute Andorfer, sehen in einer zeitweisen Zurücknahme hektischer Alltagstätigkeiten eine Möglichkeit zum Gegensteuern. Das müsse nicht das Kippen in Achtsamkeits-Wahn bedeuten. Ausgleich durch freudvolle und entlastende geistige oder körperliche Betätigung wären angesagt. Und dem Zeitgeist könne man als Mensch sehr wohl aktiv begegnen und mitgestalten. "Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom", sagte Musalek. (APA, 24.3.2017)