"Ratschläge von Nachbarn kommen selten gut an": EU-Kommissar Johannes Hahn findet wechselseitige Einmischungen in die Innenpolitik der Nachbarn auf dem Balkan "kontraproduktiv".

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STANDARD: Sie haben beim Gipfel der Premierminister am Donnerstag in Sarajevo einen "gemeinsamen Markt" für die sechs Balkanstaaten vorgeschlagen, die noch nicht in der EU sind. Montenegro befürchtet, dass das zu führen könnte, dass es keine Vollmitgliedschaft mehr bekommt, sondern eine "Mitgliedschaft light". Wie denken Sie darüber?

Hahn: Montenegro hat bereits mehr als 20 Kapitel eröffnet, Serbien acht, und die anderen Westbalkanländer sind davon weit entfernt. Montenegro hatte offensichtlich Bedenken, dass ihr Vorsprung bei der Schaffung eines gemeinsamen Marktes neutralisiert werden könnte. Aber ich konnte die Bedenken ausräumen: Die Montenegriner haben nun verstanden, dass es auch ihnen hilft, schneller voranzuschreiten, weil durch einen gemeinsamen Markt der sechs Westbalkanländer bereits Teile des Gemeinsamen Europäischen Marktes vorweggenommen werden. Viele Elemente des gemeinsamen Marktes könnten schon funktionieren, bevor Montenegro beitritt.

STANDARD: Sollte man das Regattaprinzip aufgeben, dass also alle Staaten je nach ihren Fortschritten aufgenommen werden, und stattdessen allen gleichzeitig eine "Mitgliedschaft light" geben?

Hahn: Nein, es wird keine "Mitgliedschaft light" geben, es gibt keinerlei Initiative in diese Richtung. Die Westbalkanländer haben alle die Perspektive einer Vollmitgliedschaft. Wann und ob das passiert, hängt aber natürlich von den Fortschritten der einzelnen Länder ab. Ich bin, auch was die Zukunft der derzeitigen EU betrifft, ein Gegner eines Europa der zwei oder mehr Geschwindigkeiten. Ich verstehe, dass manche sagen, man solle schneller vorangehen. Aber ich warne davor, so etwas zu institutionalisieren und zu verfestigen, denn dann wird es schwer sein, das wieder aufzulösen. Deshalb bin ich eher dafür, dass jene sich anstrengen, die hintennach hängen, und bei den Fortschritten aufholen. Staaten zu separieren macht keinen Sinn. Überhaupt gibt es ja bereits die Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit, die man auch besser nutzen kann.

STANDARD: Also soll man so weitermachen, auch wenn es noch sehr lange dauert, bis die "Balkan-Sechs" beitreten können?

Hahn: Ja, und deshalb gibt es nun die Idee des gemeinsamen Marktes. Man muss der Bevölkerung etwas offerieren, damit die Bürger und Bürgerinnen bereits jetzt konkrete Vorteile des Beitrittsprozesses sehen. Gleichzeitig hilft es den Ländern bei der Vorbereitung auf den EU-Beitritt. Wenn man einen gemeinsamen Markt hat, kann man auch einen wichtigen Beitrag zur Befriedung leisten. Der Berlin-Prozess ist nichts anderes als die Duplizierung der Gründungsidee der Europäischen Union. Durch eine intensive Zusammenarbeit, die eine gegenseitige positive Abhängigkeit schafft, soll der Anreiz für Konflikte genommen werden.

STANDARD: Was könnte beim nächsten Westbalkangipfel im Juli in Triest bereits im Sinne des Gemeinsamen Marktes beschlossen werden?

Hahn: Es sollte ein Grundsatzbeschluss dazu unterzeichnet werden, und das kann nur geschehen, wenn die Montenegriner und die Kosovaren wissen, was in der Tüte drinnen ist, und sich keine Sorgen mehr machen. Hier ist auf unserer Seite noch Überzeugungsarbeit zu leisten. In dem Grundsatzbeschluss muss also bereits erklärt werden, was der Inhalt ist. Zudem muss es einen Fahrplan geben, wie das Ganze umgesetzt wird, denn es braucht ja dann nationale Gesetze dazu. Ich hoffe auch, dass es in Triest zu einer Unterzeichnung des Vertrags zur Transportgemeinschaft kommen wird.

STANDARD: Denken Sie, dass in Mazedonien ein friedlicher Machtwechsel kommen kann, obwohl Präsident Gjorge Ivanov sich bisher weigert, dem Oppositionsführer das Mandat zur Regierungsbildung zu geben?

Hahn: In der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien wollen 75 Prozent der Bevölkerung der EU beitreten. Die Politiker sind daher gut beraten, etwas zu entscheiden, was für diesen Prozess förderlich ist. Ich bin am Dienstag in Skopje und werde erneut klarmachen, dass die positive Empfehlung der Kommission zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen auf dem Spiel steht, wenn es keine Fortschritte bei der Regierungsbildung gibt. Wir haben diesen Hebel aber nur, wenn wir sicherstellen, dass das Interesse der Bevölkerung am Beitritt zur EU erhalten bleibt. Wir müssen deshalb appellieren und erwarten, dass ein eventueller Wechsel von allen akzeptiert wird. Das Land hat sich mit der Durchführung der Wahlen Verdienste erworben. Wenn das jetzt verspielt wird, dann wird vieles verspielt. Aber wenn sie jetzt die Wahlen umsetzen, dann ist auch die EU bereit zu liefern. Denn die EU-Staaten sind sich schon bewusst, dass die Situation in Skopje unter anderem auch das Ergebnis davon ist, dass die EU-Staaten den Beitrittsprozess nicht weitergebracht haben.

STANDARD: Glauben Sie, dass es nach dem Machtwechsel eine Möglichkeit geben wird, mit Griechenland zu reden, um den Namensstreit zu beenden?

Hahn: Ich will die Diskussionen nicht vorwegnehmen. Bulgarien blockiert zudem ebenso. In der Vergangenheit hat die EU dem Thema sehr wenig Aufmerksamkeit gezollt. Man hat zur Kenntnis genommen, dass sich die drei Länder nicht einigen konnten, und das war es. Das hat sich geändert. Es gibt mehrere Vorschläge, das Problem zu lösen. Ein konkretes Ergebnis kann ich nicht vorhersagen. Aber wenn es in Skopje eine Regierung gibt, welche die Pržino-Vereinbarung (Vereinbarung mit der EU aus dem Jahr 2015 für Demokratisierung und Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit, Anm.) umsetzt und die Arbeit an den Reformprioritäten zügig aufnimmt, dann haben sich die Rahmenbedingungen zum Positiven verändert.

STANDARD: Die bisherige Regierung in Mazedonien hat stark kritisiert, dass sich Albanien in die mazedonische Innenpolitik eingemischt hat und Albaniens Premier Edi Rama die mazedonischen Albanerparteien nach Tirana eingeladen hat. Sollten sich die Nachbarn auf dem Balkan besser gar nicht mehr einmischen? Es war ja oft so, dass etwa der serbische Premier Aleksandar Vučić versucht hat, den Präsidenten der bosnischen Republika Srpska, Milorad Dodik, an die Kandare zu nehmen.

Hahn: Ratschläge vom Nachbarn kommen selten gut an. Das ist auch in unserem Land so. Das ist kontraproduktiv. Und so etwas wieder aufzulösen dauert seine Zeit. Die Premierminister haben sich bei ihrem Treffen in Sarajevo hinlänglich zu diesem Thema ausgetauscht.

STANDARD: Das russische Außenministerium hat sich Anfang März in den innenpolitischen Konflikt in Mazedonien eingemischt und den Westen stark kritisiert. Wie soll die EU damit umgehen, dass Russland die EU offensichtlich ärgern will?

Hahn: Die Russen ärgern uns, aber das ist es auch schon. Ich rufe zu mehr Selbstbewusstsein auf. Wir sollten uns damit auseinandersetzen, aber nicht wie das Kaninchen vor der Schlange stehen.

STANDARD: Wie wichtig ist es für die EU, dass die Balkanstaaten weniger abhängig von der russischen Energieversorgung werden?

Hahn: Die Abhängigkeit von der russischen Energie ist hier erstaunlich niedrig. In Serbien sind es nur etwa zehn Prozent des Gesamtverbrauchs. Da wird eher ein Image kreiert. In Serbien ist Österreich der größte Investor und investiert viermal so viel wie Russland. Russland ist ein militärischer und kein wirtschaftlicher Faktor, das muss man in Erinnerung rufen.

STANDARD: Bezieht sich die Sorge der EU-Staaten auf dem Balkan also nicht auf Russland, sondern auf die ethnischen Spannungen und die Instabilität?

Hahn: Ja. Aber es ist klar, dass die Instabilität auch von dritten Kräften aus verschiedenen Ecken und Kanälen geschürt wird. Das befeuert noch die hausgemachte Instabilität. Aber wir haben ein ureigenes Interesse an dieser Region, denn die EU braucht Stabilität in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Daher werden wir uns als EU, unabhängig von der Orientierung der US-Regierung, federführend um den Westbalkan kümmern. Und die Amerikaner haben das positiv aufgenommen. Die europäische Perspektive wurde vom letzten Europäischen Rat eindeutig bestätigt, und ich fühle mich nicht nur verpflichtet, sondern bin persönlich engagiert, die Westbalkanländer bei der Erreichung dieses Zieles bestmöglich zu unterstützen. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 20.3.2017)