Neben Anne Weber, Lukas Bärfuss, Natascha Wodin und Brigitte Kronauer steht auch Steffen Popp mit dem Gedichtband "118" auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse.

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Steffen Popp, "118". Gedichte. € 19,90 / 144 Seiten. kookbooks, Berlin 2018

cover: kookbooks

Es gehört zu den Kennformeln der schönen Schreibkünste, wenigstens den Anschein zu erwecken, man stehe mit den Naturwissenschaften in einem Verhältnis der Vertraulichkeit. Vom Konzept der totalen Poesie, wie es die deutschen Romantiker verfolgten, führt ein windungsreicher Weg hin zum Fachsprachenrausch, von dem sich Vertreter der "Kälte" und Ernüchterung – wie der Hautarzt Gottfried Benn – technisch mitreißen ließen.

In dem Gedichtband 118 des Greifswalder Poeten Steffen Popp kann man den nämlichen Ehrgeiz beobachten. Das wunderfein gestaltete "kookbook" trägt als Mantel die Symbole des elementaren Periodensystems. 118 definierte Elemente bilden mit Datum 2017 die materielle Grundlage der Welt. Und weil Popp hinter der Vielgestaltigkeit der Schöpfung keineswegs zurückstehen möchte, bietet er seinerseits 118 Ordinalbegriffe auf. Unter ihnen finden sich harmlose Alltagswörter wie "Stein", "Salz" oder "Fenster".

In anderen, nicht immer eindeutig beziehbaren Fällen gehen solche "Elemente" zweiter Ordnung miteinander Allianzen ein. Hergestellt werden Verbindungen, und zwar vornehmlich solche, die nicht auf der Hand liegen. "Seife" prallt dann in ein und demselben Gedicht auf "Zenit", "Pudding" auf "Regime". Die poetischen Texte selbst wiederum bilden Tafeln. Jedes Gedicht besteht aus zehn Versen. Der jeweilige Titel kommt unter-, nicht oberhalb der ihm gewidmeten Textsäule zu stehen. Man meint, jeweils ein Stillleben aus Wörtern und stockenden Versen vorzufinden, mit dem Gipfelwort als Bildlegende, wie in eine Kartusche gefasst.

Es handelt sich um ein Charakteristikum der späten, weitgehend entregelten Kunstmoderne, Strukturen, die sie sich absichtsvoll auferlegt, ohne weitere Begründung einzuführen. Der Hinweis auf Beliebigkeit und Kontingenz verfängt in diesem Zusammenhang wenig. Das poetische Produkt will ja gerade dadurch für sich einnehmen, dass es dem Leser, der Leserin ein Erlebnis zumutet, dessen Bestes in der Neuartigkeit des gewonnenen Eindrucks besteht. Hat man diese Kröte mit Blick auf 118 erst einmal geschluckt, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Popp ist, um im Bild zu bleiben, mit allen Destillaten gewaschen. Wenn er den Begriff "Nerven" mit dem gar nicht fernab liegenden der "Materie" verschmilzt, so gewinnt er mühelos Neuland. Bevölkert ist dieses freilich mit bekannten Gestalten. Man stößt im vierten Vers auf den (ungenannt bleibenden) Friedrich Nietzsche, wie dieser, wahnsinnsnah und vom Geschäft des Denkens entkräftet, in Turin ein Pferd in die Arme schließt: "am Offenen leiden, geländerlos am Hals / eines Droschkengauls, Schaum aus einem / sabbernden Maul seift dir den Nacken ein." In einer solchen Technik der Zusammenschau vermisst man tatsächlich ein Geländer. "Die Kreatur, an der ich hänge, bin ich, hör / leider auch Nazis singen, Erde, kopfinnen".

Steffen Popps poetischer Chemismus ist ein stockender. Viele seiner Gedichte wirken wie Entwurfsmuster. Es sind widerstreitende Kräfte und Energien am Werk, die einander – natürlich aus Kalkül – an einer endgültigen Gestaltwerdung des "fertigen" oder eben erst herzustellenden Gedichts hindern.

Das Unfertige, hier wird es Ereignis. Schüttelt man die Wörter ordentlich durch, entwickeln sie ungeahnte Bindungskräfte. Unter dem Elementarwort "Sonne" wird das Geschehen augenfällig. "Nichts ist umsonst, wirklich, allein. Fusions- / geschehen lässt uns anteilig Sterne sein / und, alles zeugt Folgesonnen. Gedichte auf / Hügeln, Schattenperücken, Versailles ..." So heißt es, und man muss schon das Bild von Louis XIV über eine Kette von Atommeilern legen, um zu folgendem niederschmetterndem Befund zu gelangen: "(...) Die alte Atomuhr / in Omas post-kubofuturistischem Mostkeller / kennt deine wahren Namen, Strahlenkind."

Genau an ihren Namen wird man diese kleinen alchemistischen Wunderwerke nicht erkennen können. Sie sind die Schöpfungen eines knapp 40-jährigen, strahlenden Meisterpoeten. (Ronald Pohl, Album, 19.3.2017)