Nachdem Obama 2007 seine Präsidentschaftskandidatur bekannt gegeben hatte, wurden im afroamerikanischen Diskurs Stimmen laut, die meinten, Obama sei nicht "schwarz", da "'schwarz'", so die afroamerikanische Autorin Debra Dickerson, "in unserer politischen und sozialen Realität bedeutet, dass jemand von westafrikanischen Sklaven abstammt". Diese identitätspolitische Position Debra Dickersons bringt gegen die negative rassistische Identifizierung aller Schwarzen als "nigger" eine "positive" Identität in Stellung: Die Abstammung "echter" schwarzer US-Amerikaner von westafrikanischen Sklaven.

Von den Nazis "zum Juden gemacht"

Anders reagierte der Schriftsteller und Widerstandskämpfer Jean Améry auf seine Identifizierung als Jude durch den nationalsozialistischen Todfeind. Er, der seinen jüdischen Vater, einen Tiroler Kaiserjäger, als Kleinkind verloren hatte, und von seiner katholischen Mutter erzogen worden war, wurde 1935 durch die Nürnberger Gesetze "zum Juden gemacht".

"Ich war neunzehn Jahre alt, als ich von der Existenz einer jiddischen Sprache vernahm, wiewohl ich [...] genau wußte, daß meine religiös und ethnisch vielfach gemischte Familie den Nachbarn als eine jüdische galt [...] Ich war Jude so wie einer meiner Mitschüler Sohn eines bankrotten Wirtes war: wenn der Knabe mit sich allein war, mochte der geschäftliche Niedergang der Seinen so gut wie nichts für ihn bedeutet haben [...] Meint also Jude sein einen kulturellen Besitz, eine religiöse Verbundenheit, dann war ich keiner und kann niemals einer werden."¹ 

Autor Jean Améry.
Foto: Klett Cotta

Eine wie auch immer geartete positive Identität als Jude hatte Améry also nicht – was aber nicht heißt, dass er glaubte, jenen brutalen negativen Akt der Identifizierung als Jude per Rassengesetz einfach zurückweisen zu können.

"Als ich 1935 die Nürnberger Gesetze las und mir bewußt wurde, nicht nur, daß sie auf mich zutrafen, sondern daß sie der juridisch [...] zusammengefaßte Ausdruck des schon vorher von der deutschen Gesellschaft [...] gefällten Urteilsspruches waren, hätte ich geistig die Flucht ergreifen [...] können. Dann hätte ich mir gesagt: So, so, dies ist also der Wille des nationalsozialistischen Staates [...] er hat aber nichts zu schaffen mit dem wirklichen Deutschland. Oder ich hätte argumentieren können, daß es eben nur Deutschland sei, ein leider in einem blutigen Wahn versinkendes Land, das mich da absurderweise zum Untermenschen [...] stempelte, während zu meinem Heil die große und weite Welt draußen, in der es Engländer, Franzosen, Amerikaner, Russen gibt, gefeit ist gegen die Deutschland geißelnde Paranoia. Oder ich hätte [mir] schließlich [...] zusprechen können: Was immer man von mir auch sage: es ist nicht wahr. Wahr bin ich nur, als der ich mich selber im Innenraum sehe [...] ich bin, der ich für mich und in mir bin, nichts anderes. Ich will nicht sagen, daß ich nicht bisweilen solcher Versuchung unterlag".²

Bisweilen – aber nicht dauerhaft. Denn: "Ich verstand, wenn auch undeutlich, daß ich [...] den Urteilsspruch [der Nürnberger Gesetze] als einen solchen akzeptieren müsse [...] Ich nahm das Welturteil an".³

Und weiter:

"Ich kann in meinen Erwägungen den Juden, die Juden sind, weil eine Tradition sie birgt, keinen Raum lassen. Nur für mich selber darf ich sprechen – und [...] für die wohl nach Millionen zählenden Zeitgenossen, auf die ihr Judesein hereinbrach, ein Elementarereignis, und die es bestehen müssen ohne Gott, ohne Geschichte, ohne messianisch-nationale Erwartung. Für sie, für mich heißt Jude sein die Tragödie von gestern in sich lasten spüren. Ich trage auf meinem linken Arm die Ausschwitz-Nummer; sie liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch [...] gründlicher Auskunft."⁴

Améry nahm diese seine Identifizierung als Jude durch die Nationalsozialisten als gesellschaftliches Urteil radikal auf sich. Und weigerte sich, gegen die negative Identität, die ihm als Ausschwitz-Nummer auf dem linken Unterarm eingeschrieben war, eine positive Identität als religiöser, nationaler, "kultureller" oder traditioneller Jude in Stellung zu bringen.

Eine Verangenheit, die nicht vergeht

Juden, so Moishe Postone, sind für den modernen Antisemiten "Personifikationen der unfassbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen ... Herrschaft des Kapitals."

Der Antisemitismus ist daher nicht einfach irgendeine "Unterabteilung des Rassismus"⁵. Dennoch aber, und bei aller Unterschiedlichkeit, gibt es eine für unseren Zusammenhang wichtige Gemeinsamkeit zwischen der Identifizierung von Juden durch die Rassengesetze der Nationalsozialisten und der rassistischen Identifizierung schwarzer US-Amerikaner als "nigger". Die per Gesetz zu Juden Gestempelten sind, wie die als "nigger" Identifizierten, Opfer eines, wie Améry es nennt, "Würdeentzugs", den er in der Todesdrohung eingebettet sieht.

"Jude sein, das hieß für mich von diesem Anfang an, ein Toter auf Urlaub sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte [...] In der Todesdrohung, die ich zum ersten Mal in voller Deutlichkeit beim Lesen der Nürnberger Gesetze verspürte, lag auch das, was man [...] die methodische 'Entwürdigung' der Juden durch die Nazis nennt."⁶

Die Todesdrohung, mit der Schwarze in den USA konfrontiert waren und sind, ist zwar - weil sie nicht, wie im Falle des Holocaust, einen industriellen Massenmord ankündigt – gänzlich anderer Art als jene von der Améry spricht. Todesdrohung, die Entwürdigung in sich birgt, war, ist und bleibt sie aber dennoch.

Peter Williams und Dokumente, die seinen Status als Sklave bezeugen.
Foto: AP/Bebeto Matthews

"Grundsätzlich galt [...] für alle Sklaven, dass sie [...] in den Südstaaten der USA vor dem Gesetz so wie Vieh als Eigentum galten und keinerlei persönliche Rechte hatten. Sie waren der Willkür ihres Besitzers schutzlos ausgeliefert, d.h. er konnte sie einsperren, hungern lassen, auspeitschen [...] ja töten ohne dafür rechtlich belangt zu werden."⁷

Die Ku-Klux-Klan-Morde, etwa die Morde an den Bürgerrechtsaktivisten 1964 in Mississippi, die bis heute nicht angemessen gesühnt wurden, und der Umstand, dass der Ku-Klux-Klan seit der Wahl Obamas neuen Zulauf verzeichnet, erinnern daran, daß diese Verangenheit nicht vergehen will. Gibt man in die Google-Suchleiste die Begriffe "USA" und "Polizist" ein, lautet der erste Vorschlag: "erschießt Schwarzen". (Sama Maani, 7.3.2017)

Fortsetzung folgt.

¹ Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 146 f.

² Ebd. S. 156.

³ Ebd. S. 157.

⁴ Ebd. S. 162 f

⁵ Antisemitismus ist nicht gleich Rassismus. Interview mit Detlev Claussen (ZAG Berlin)

⁶ Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 150 f.

⁷ Britta Waldschmidt-Nelson, Malcolm X. Der schwarze Revolutionär. Eine Biografie, München 2015, S. 14.

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