Maman Flora mit ihren Kindern.

Foto: Wojciech Czaja

Schulhaus und Wohnveranda von Maman Françoise.

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Klassische Biografien wie in Mitteleuropa, lernt man hier schnell, sind in der Elfenbeinküste eine Seltenheit.

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Die Häuser der SOS-Kinderdörfer sind rot, orange und ockerfarben, weil das die unbeliebtesten und daher immer vorrätigen Farben sind

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Das Diktiergerät ist an diesem Nachmittag der Star. Die Spiegelreflexkamera sowieso. "Jedes Spielzeug und alles, was auch nur annähernd wie eines aussieht", sagt Maman Émilienne, "wird von meinen Kindern sofort in Beschlag genommen. Und solche exotischen Dinge sowieso!"

Émilienne Sayni Tanoa, 54 Jahre alt, ist Mutter im SOS-Kinderdorf in Yamoussoukro, der Hauptstadt der Elfenbeinküste. Früher hat sie als Assistenzschwester in einem Krankenhaus gearbeitet. Heute ist sie hauptberufliche Allzeitmutter von vier Buben und drei Mädchen. "Cooles Objektiv", sagt Laetitia, neun Jahre alt. Ihr vierjähriger Bruder Affouet hat es indes auf das Mikrofon abgesehen. Und dann ist die Tonaufnahme zu Ende.

Das Gespräch mit den Kindern ist sowieso an der Oberfläche geblieben. Durfte gar nicht in die Tiefe gehen. Jede Frage nach Herkunft, Familie und persönlicher Geschichte ist untersagt. "Das würde die Kinder nur beunruhigen", sagt Maman Émilienne. "Viele von ihnen sind traumatisiert. Manche haben ihre Eltern im Bürgerkrieg vor zehn Jahren verloren, manche wurden missbraucht, andere wurden als Babys in einem Pappkarton am Straßenrand abgegeben, weil die Eltern plötzlich merkten, dass sie sich ein sechstes, siebtes, achtes Kind nicht mehr leisten können." Klassische Biografien wie in Mitteleuropa, lernt man hier schnell, sind in der Elfenbeinküste eine Seltenheit.

Psychologische Gratwanderung

"Die meisten Kinder haben schreckliche Erfahrungen hinter sich", erklärt Casimir Diamande, Direktor des jüngsten Kinderdorfs des Landes. Seit zwei Jahren ist die Einrichtung, die 66 Kindern zwischen drei Monaten und 16 Jahren eine Mama gibt, in Betrieb. "Die Arbeit mit den Kindern ist beglückend, aber sie ist auch eine psychologische Gratwanderung. Die aktuelle politische Unruhe trägt nicht gerade zur Entspannung bei."

Gemeint sind die Soldatenproteste in Yamoussoukro, in der Wirtschaftsmetropole Abidjan sowie in der einstigen Rebellenhochburg Bouaké, bei denen im Jänner Schüsse fielen, auch tödliche, keine hundert Kilometer von hier. Erinnerungen an den Bürgerkrieg werden wach. Der Direktor hat ein Déjà-vu.

Affouet, der vierjährige Frechdachs, hat das Diktiergerät längst an sich gerissen und spielt damit brumm-brumm. Dann grapscht er dem österreichischen Besucher ins Gesicht und zieht an seiner farblosen Haut. "Bon jour, Papa!" Die Geschichte des Buben, sagt Maman Émilienne, während sie ihn am Kopf streichelt, sei eine besonders tragische. "Durch Frauen wie mich bekommen die Kinder immerhin eine Mutter, doch die Vaterfigur fehlt ihnen komplett. Und so machen einige Kinder jeden halbwegs sympathischen erwachsenen Mann auf Anhieb zum Papa."

"Lieblingspapa" baut Kinderdörfer

So wie auch Jivko Mihaylov. Der 61-jährige Bulgare ist der Lieblingspapa von allen. Er plant, baut und betreut die SOS-Kinderdörfer in ganz West- und Zentralafrika. Und er beherrscht das breitmundige, ivorische Französisch samt rollendem R so perfekt wie kaum ein anderer.

Wenn der Bauingenieur alle paar Monate in Yamoussoukro auftaucht, hängt das halbe Dorf an seinem karierten Hemdzipfel. "Fragen Sie mich nicht, wie viele Schulen, Kindergärten und Kinderdörfer ich schon gemacht habe. Ein paar Dutzend werden es schon sein, vielleicht sogar hundert." Seit 30 Jahren lebt Jivko bereits in Afrika und ist im Baugeschäft tätig, die letzten 25 davon für SOS.

"Einen Pritzker-Preis werde ich mit meinen Dörfern nicht gewinnen, das weiß ich schon", sagt Jivko. Er sieht sich eher als eine Art MacGyver, der aus nichts alles machen kann und die Gebäude aus den gerade am Markt erhältlichen Baustoffen plant – und zwar so, "dass ich mich fürs Endergebnis nicht zu schämen brauche. Die Häuser sind grundsolide und halten ein gutes Weilchen". Jivkos Zutaten: Betonsteine, Metallfenster, Holztüren, Fliesen und Ölfarbe für die Innenräume. Letztere sei zwar nicht besonders hübsch anzusehen, aber dafür unempfindlich gegen Malkreide, Schuhabdrücke und Kichererbseneintopf.

Topografisch unglücklich

Seine Häuser, meint der selbsternannte Afrika-Architekt mit einem breiten Grinsen, erkenne man bereits aus dem All. "Sie sind alle rot, orange und ockerfarben. Das hat weniger mit meinem persönlichen Geschmack zu tun als vielmehr mit der Tatsache, dass das die billigsten, robustesten und vor allem unbeliebtesten und daher immer vorrätigen Farben sind. Also... ich finde die super." Aufgetragen werden die erdigen Außenraumfarben direkt in den noch feuchten Zementputz. Das macht die Oberfläche über viele Jahre regen- und feuchtigkeitsresistent.

Besonders wichtig ist diese hydrophobe Eigenschaft in Abobo im Süden des Landes, liegt das SOS-Kinderdorf doch – topografisch unglücklich – am tiefsten Punkt einer Talmulde. Abobo ist so etwas wie die Bronx von Abidjan. Binnenmigranten aus der ganzen Elfenbeinküste leben in diesem nicht besonders einladenden Bezirk am Stadtrand der Wirtschaftsmetropole.

Sie kommen scharen- und familienweise, getrieben von der Hoffnung auf Arbeitsplätze. Die meisten Gebete der Arbeitsuchenden verhallen ungehört. Offizielle Zahlen gehen von einer Million Einwohnern aus. Die Dunkelziffer, erzählt man sich, liege im Bereich des Doppelten.

Spenden machen den Unterschied

"Abobo ist ein riesiges, teils informelles Slumviertel mit wenigen befestigten Straßen und vor allem ohne flächendeckende Kanalisation", sagt Kinderdorf-Erbauer Jivko. Müll ist überall, immer wieder liegen Tierkadaver vor den Häusern. "Früher stand das Kinderdorf regelmäßig unter Wasser. Bei jedem Regen ist eine Sintflut über das Grundstück hereingebrochen. Es war apokalyptisch. Man kann sich nicht vorstellen, welcher Anblick und Geruch das war."

Diese Zeiten sind vorbei. Mithilfe europäischer Spendengelder konnte das Dorf, das 1971 als erstes SOS-Kinderdorf Afrikas errichtet wurde und heute 120 Kindern ein Zuhause gibt, letztes Jahr revitalisiert und zum Teil völlig neu aufgebaut werden. Neben der Haustür ist der jeweilige Großspender ersichtlich.

"Unser Leben hat sich seitdem sehr verändert", sagt Maman Françoise. "Zum ersten Mal, seit ich mich erinnern kann, müssen wir in der Regenzeit nicht mehr auf die obere Etage der Stockbetten ausweichen. Das hört sich im Rückblick lustig an, war es aber nicht." Auch Maman Flora im Haus nebenan, die Frau mit dem blau-orangen wachsbedruckten Pagne am Kopf, weiß ihre Lieben nun in trockenen Tüchern. Nass werden gelegentlich nur noch deren Augen.

Tatsächlich floss der Großteil der Investition in die Drainage des Grundstücks, in die Abwasserrinnen entlang der Straßen und in die unterirdischen Kollektorgänge, durch die nun die alljährlichen, oft auch allmonatlichen Fluten aus Abobo abfließen können, ohne dabei das gesamte Kinderdorf unter Wasser zu setzen.

Sogar eine Volksschule und ein Kindergarten für insgesamt 200 Kinder wurden neu errichtet. Hinzu kommen Wasserturm, Trafostation und Notstromgenerator. 2,3 Milliarden westafrikanische CFA-Francs (3,5 Millionen Euro) hat das Gesamtprojekt verschlungen.

35.000 Kinder in Not

"Uns wird manchmal nachgesagt, dass die Kinder hier im Luxus leben", sagt Paul Gbato, Nationaldirektor von SOS Elfenbeinküste, beim Spaziergang durch das herausgeputzte Dorf. "Das ist wahr. Aber wahr ist auch, dass das nur der Versuch einer Kompensation für all das ist, was diese Kinder in ihrem relativ kurzen Leben schon alles erlebt haben. Wir werden diese Wunden niemals heilen können. Wir können nur ein schönes, weiches Pflaster drauftun."

Vor zwei Jahren hat Gbato eine Studie in Auftrag gegeben. Demnach leben allein in den Slumvierteln von Abobo rund 35.000 Kinder in schwierigen, familiär und wirtschaftlich prekären Situationen. "Wir würden hundert solcher Kinderdörfer brauchen", sagt er, "und tausende Mütter." Jivko klopft dem Direktor auf die Schulter. "Sag mir, wann und wo, Maître, Chef, und ich komme."

Das Diktiergerät wird wieder eingepackt. Die Botschaft der ivorischen Helfer ist auf Band, das exotische Ding interessiert die Kinder längst nicht mehr: "Au revoir, Papa." (Wojciech Czaja, 5.3.2017)