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Stark vernachlässigte Kinder leiden auch im Erwachsenenalter noch an den psychischen Folgen früher Entbehrungen. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie. Beim Foto handelt es sich um ein Symbolbild.

Foto: dpa-Zentralbild/Patrick Pleul

Es war 1990 kurz nach dem Sturz des Regimes von Diktator Nicolae Ceauşescu, als erschreckende Bilder aus rumänischen Waisenhäusern um die Welt gingen: Sie zeigten verwahrloste Kinder, stark unterernährt, die unter extrem schlechten hygienischen Bedingungen leben mussten. Die Bilder führten zu einer Welle der Hilfsbereitschaft aus dem Ausland. Zehntausende rumänische Kinder wurden in den 1990er-Jahren adoptiert. Auch britische Familien nahmen Kinder auf.

In einer großangelegten Studie, der "English and Romanian Adoptees Study", beobachtete eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern die psychische Gesundheit der jungen Heranwachsenden, die ihr neues Zuhause in Großbritannien gefunden hatten. Das Team um Edmund Sonuga-Barke, Professor am King's College in London, fragte danach, wie sich die psychische Gesundheit und die kognitiven Fähigkeiten entwickeln, wenn Kinder in jungen Jahren unter widrigen Bedingungen leben müssen.

Dauer der Heimerfahrung entscheidend

Das Ergebnis: Erwachsene, die als Kinder stark vernachlässigt wurden und viele Entbehrungen ertragen mussten, leiden auch im frühen Erwachsenenalter noch unter den psychischen Folgen. Entscheidend für die psychische Gesundheit ist die Dauer der Heimerfahrung. Diejenigen, die weniger als sechs Monate in einer Einrichtung in Rumänien verbracht hatten, waren psychisch ähnlich gesund wie die britische Vergleichsgruppe ohne Heimerfahrung.

Anders die Entwicklung bei rumänischen Adoptivkindern, die mehr als sechs Monate im Heim gelebt hatten: Sie wiesen bis ins Erwachsenenalter massive soziale, emotionale und kognitive Beeinträchtigungen auf. Zudem erreichten sie einen schlechteren Bildungsabschluss und fanden seltener Arbeit. Die Forscher beobachteten außerdem eine verzögerte Entwicklung in der Intelligenz derjenigen, die länger als sechs Monate im Waisenhaus gelebt hatten. Der IQ normalisierte sich jedoch im frühen Erwachsenenalter, schreiben die Studienautoren.

Britische Vergleichsgruppe

Analysiert wurden die Daten von 165 Mädchen und Buben, die damals als Kinder aus rumänischen Heimen nach Großbritannien geholt wurden. In Großbritannien lebten sie später in stabilen und sozioökonomisch gutgestellten Familien. Mittels Fragebögen, IQ-Tests und Interviews mit Kindern und Eltern untersuchte das Forscherteam soziale, emotionale und kognitive Auffälligkeiten der Mädchen und Buben im Alter von sechs, elf und 15 Jahren.

Als die jungen Probanden 25 Jahre alt wurden, nahmen die Wissenschafter erneut Kontakt zu ihnen auf. Rund drei Viertel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer erklärten sich wieder zu Gesprächen und Tests bereit. Als Vergleichsgruppe dienten den Studienleitern 52 Kinder, die innerhalb von Großbritannien adoptiert worden waren.

Psychische Widerstandsfähigkeit

Zu interessanten Befunden kamen die Forscher auch hinsichtlich der sogenannten Resilienz mancher Kinder – also ihrer Fähigkeit, mit belastenden Situationen konstruktiv umzugehen: Eines von fünf längerfristig im Heim untergebrachten Kindern hatte überhaupt keine psychischen Probleme. An diesem Punkt sollen zukünftige Studien ansetzen: "Wir wissen immer noch sehr wenig darüber, warum einige der Kinder trotz extremer Vernachlässigung keine Spätfolgen zeigen", sagt Robert Kumsta, Professor an der Bochumer Arbeitsgruppe Genetische Psychologie. "Wir planen derzeit Untersuchungen, um genetische und epigenetische Faktoren zu identifizieren, die möglicherweise schützend wirken."

Relevant für viele Kinder

Das Autorenteam verweist in seiner Studie darauf, dass die Ergebnisse für viele Kinder, die weltweit vernachlässigt heranwachsen müssen, relevant ist – wegen Krieg, Terrorismus oder Fluchterfahrung.

Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift "The Lancet" veröffentlicht. Beteiligt waren neben dem King's College in London auch die University of Southampton, die Ruhr-Universität Bochum und das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt. (chrit, 26.2.2017)