Es braucht ausreichend Personal in den Schulen, um eine echte und individuelle Inklusion zustande zu bringen.

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Vor über 30 Jahren fasste der Sonderschuldirektor Norbert Syrow aus Reutte in Tirol einen mutigen Entschluss: Er schaffte seine eigene Schule ab. Er war der Überzeugung, dass die Aussonderung der falsche Weg sei. Behinderte und nichtbehinderte Kinder sollen gemeinsam lernen und leben, denn nur im Miteinander können Vorurteile abgebaut werden oder erst gar nicht entstehen. Die Schule sei der Schlüssel zu einem normalisierten Umgang miteinander. Der schrittweise Übergang von einem System der ausschließlichen Beschulung in der Sonderschule zu einem System der vollständigen wohnortnahen Integration dauerte in Reutte zwölf Jahre lang. Aber es zeigte sich, dass jedes Kind mit einer Behinderung in die Regelschule integriert werden konnte – wenn die Rahmenbedingungen stimmten. Von individuellen Lehrplänen, offenem Unterricht, geringeren Schülerzahlen und zwei Pädagogen pro Klasse, wie sie die Rahmenbedingungen in Integrationsklassen sind, profitiert jedes Kind.

Mit einem Sonderschulabschluss werden einem Jugendlichen viele Perspektiven genommen. Laut einer Schweizer Studie hat selbst drei Jahre nach Beendigung der Schulzeit rund ein Viertel der Betroffenen noch keinen beruflichen Zugang gefunden. Für junge Erwachsene mit vergleichbarer Schulschwäche, aber ohne Sonderschulvergangenheit ist diese Problematik etwa viermal geringer. Häufig brechen sie Berufseinstiege wieder ab. Das sind allesamt Indikatoren für eine wenig erfolgreiche gesellschaftliche Eingliederung. Daher begrüße ich das Vorhaben von Bildungsministerin Sonja Hammerschmid, bis zum Jahr 2020 das Modell der Sonderschule auslaufen zu lassen und damit jedem behinderten Kind die gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Denn Inklusion ist ein Menschenrecht. So sieht es auch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Zu diskutieren ist daher nicht, ob Inklusion, sondern wie sie sinnvoll und gut umgesetzt werden kann.

Pflichtschullehrer-Gewerkschafter Paul Kimberger ist nicht grundsätzlich gegen schulische Inklusion, vermisst aber die passenden Rahmenbedingungen an den Schulen. Aufgrund mangelnder Ressourcen ortet er viele Ängste und Befürchtungen seitens Pädagogen und Eltern (der STANDARD vom 23. 1. 17). Es ist richtig, Inklusion ist kein Sparmodell! Derzeit läuft vieles falsch. Unter dem Vorwand der schulischen Inklusion werden an so mancher Volksschule keine Integrationsklassen mehr weitergeführt. Die in Integrationsklassen zusätzlich eingesetzten Sonderschulpädagogen sind dann nicht mehr den ganzen Schultag in einer Klasse, sondern springen stundenweise von Klasse zu Klasse. Mit dieser Reduzierung wird die individuelle Betreuung und Unterstützung von so manchem behinderten Kind allerdings nicht mehr möglich sein, die Belastung der Klassenlehrer steigt enorm.

Nicht der beste Weg

Beide Systeme parallel zu bewahren – Inklusion und Sonderschule – ist der teuerste, aber bei weitem nicht der beste Weg für die betroffenen Kinder und auch nicht für die Gesamtgesellschaft. Die Wahlfreiheit für Eltern, ob ihr behindertes Kind in eine Sonderschule oder in eine Integrationsklasse geht, gibt es seit 1993. Aber ist das eine echte Wahlfreiheit, wie sie Familienministerin Sophie Karmasin hochhält? Die Sonderschulen bieten meist Therapien und Nachmittagsbetreuung an, die Regelschulen oft nicht. Auch die pädagogischen Ressourcen sind ungleich verteilt. Bei gleicher pädagogischer und therapeutischer Begleitung würden sich wohl die meisten Eltern behinderter Kinder für den gemeinsamen Unterricht entscheiden.

Wo sollen die Ressourcen für die schulische Inklusion nun herkommen? Durch Umverteilung. Lässt man das Modell der Sonderschule auslaufen, kann man diese frei gewordenen Ressourcen sukzessive der Inklusion an Regelschulen übertragen. Die Sonderschulpädagogen müssen sich nicht um ihre Anstellungen sorgen – ganz im Gegenteil: Sie werden mehr denn je in inklusiven Regelschulen gebraucht werden.

Ein Umsetzungsplan muss folgende Schritte beinhalten:

· Ein klares und verlässliches Signal der Bundesregierung, dass es langsam, aber entschieden in Richtung Inklusion geht – nicht mehr ob, sondern wie!

· Die Elternberatung sollte, wie in der Modellregion Tirol, von unabhängigen Stellen und nicht mehr, wie bisher, von Sonderpädagogischen Zentren (SPZ) durchgeführt werden.

· Jedes behinderte Kind, das neu eingeschult wird, sollte in die Regelschule gehen.

· Aufnahmestopp an der Allgemeinen Sonderschule (ASO), wo in der Überzahl sogenannte verhaltensauffällige Kinder landen.

· In Sonderschulen sind mit 33,2 Prozent überproportional viele Kinder mit Migrationshintergrund. Hier braucht es Sprachförderung statt sonderpädagogischer Förderung, die im Regelschulsystem erfolgen soll.

· Wie in Südtirol braucht es zur Entlastung der Klassenlehrer Schulassistenten, die je nach Bedarf jedem Kind zugeteilt werden können und auch Pflegetätigkeiten durchführen dürfen.

· Die Rahmenbedingungen an den Regelschulen müssen, wie in der Modellregion Kärnten, durch eine Barrierefreiheit der Gebäude, die Öffnung des Nachmittagsunterrichts für behinderte Kinder und auch durch externe Therapieangebote adaptiert werden.

· Inklusion beginnt nicht in der Schule, sondern im Kindergarten. Das verpflichtende erste und zweite Kindergartenjahr muss daher auch für behinderte Kinder gelten.

Inklusion nützt allen! Nicht nur den Kindern mit Behinderung, sondern vor allem auch den nichtbehinderten und genauso den hochbegabten Kindern. Individualisierter Unterricht mit besseren Rahmenbedingungen geht auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes ein. Zudem fördert der gemeinsame Unterricht den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sonderschulen vermögen behinderte Kinder genauso wenig vor Mobbing zu schützen, wie Karmasin das vermutet. Gut durchdachte und gut gemachte Integration verhindert Vorurteile oder baut sie ab. Die Käseglocke ist kein pädagogisches Zukunftsmodell. (Franz-Joseph Huainigg, 9.2.2017)