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Kritiker im Visier: der türkische Staatschef Erdoğan.

Foto: Reuters/Kayhan Ozer/Presidential Palace

Ankara/Athen – Nicht einmal der Sultan habe eine Partei gehabt, hatte Ibrahim Kaboğlu jüngst in einem Interview festgestellt. Der "größte Bruch in unserer Geschichte" sei die Verfassung, die der türkische Staatspräsident Tayyip Erdoğan nun für sich durchsetzen will, sagte der angesehene Jusprofessor. Mit der türkischen Republik sei es dann vorbei: Alle Macht im Staat werde dem Präsidenten gegeben, der auch offiziell wieder seine Partei führen darf. Nun schlug Erdoğan zurück: Auf der Liste der Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst steht im jüngsten Dekret des Präsidenten auch der Name des 66-jährigen Verfassungsrechtlers von der Marmara-Universität in Istanbul.

Kaboğlu wurde wie weitere 330 Hochschullehrer diese Woche gefeuert, doch Mittwochnachmittag saß er wie geplant in einer Podiumsdiskussion der Anwältekammer in Adana. Thema der Diskussion: die Verfassungsänderung.

Ein Referendum noch in der Zeit des Ausnahmezustands sei ein Verstoß gegen die Verfassung, glaubt Kaboğlu auch. Bis zum 19. April gilt derzeit der Ausnahmezustand. Vor sieben Monaten, nach dem vereitelten Putsch vom 15. Juli, ist er von Erdoğan verhängt und seither schon zweimal verlängert worden. Erdoğan regiert seither am Parlament vorbei mit Notstandsdekreten. Den Termin für den Volksentscheid über seine Verfassung wolle er diese Woche bekanntgeben, hat Erdoğan angekündigt. Kolportiert wird in Ankara nun der 16. April.

124.000 Entlassungen

Insgesamt 4.644 Staatsbedienstete sind mit dem am Dienstagabend veröffentlichten jüngsten Dekret entlassen worden, 124.000 sind es nun seit dem Putsch. Den Großteil der Entlassungen gab es auch dieses Mal in Einrichtungen, die dem Bildungsministerium unterstehen – also an Schulen und Universitäten. Den Betroffenen wird vorgeworfen, dem Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen anzugehören, dem langjährigen Verbündeten Erdoğans und der Regierungspartei AKP.

Ein Teil der entlassenen Hochschullehrer soll dagegen die Petition "Akademiker für den Frieden" im Jänner vor einem Jahr unterschrieben haben. Erdoğan hatte sie als "Verräter" gebrandmarkt, weil sie den Stopp der Militäroperationen in den Kurdenstädten verlangt hatten.

Der Verfassungsjurist Kaboğlu gehört weder in die Schublade "Gülen" noch in die andere mit dem Etikett "PKK", erklärten empört Studenten, Professorenkollegen und Oppositionspolitiker der sozialdemokratischen CHP und der prokurdischen HDP.

Offenes Referendum

Kaboğlus einziges Vergehen scheint zu sein, öffentlich gegen Erdoğans Verfassung zu argumentieren. Der Ausgang des Referendums gilt derzeit noch als offen. Von sieben Umfragen, die seit Anfang Jänner veröffentlicht wurden, sagten vier eine Mehrheit für den Wechsel von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialsystem voraus.

Die türkische Polizei nahm am Mittwoch mit Leyla Zana eine weitere prominente Kurdenpolitikerin fest. Parteiführung und ein Teil der Parlamentsfraktion der HDP sind schon seit vergangenen November im Gefängnis.

In seinem ersten Telefongespräch mit US-Präsident Donald Trump Dienstagabend soll Erdoğan auf ein Ende der Waffenhilfe für die kurdische PYD in Syrien gedrängt haben. Die erste Auslandsreise von CIA-Chef Michael Pompeo soll in die Türkei gehen. (Markus Bernath, 9.2.2017)