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Anti-TTIP- und Anti-Ceta-Demonstranten vor dem Gebäude der EU-Kommission in Brüssel: Es ist wichtig, die mangelnde Verteilungsgerechtigkeit im Welthandel zu diskutieren. Ob man deshalb gleich das ganze System infrage stellt, ist eine andere Geschichte.

Foto: REUTERS/ ERIC VIDAL

Die Europäische Union ist in einer schweren Legitimationskrise. Für viele Schwierigkeiten des letzten Jahrzehnts machen die Wähler die EU und ihre Institutionen verantwortlich. Starke nationalistische Bewegungen und eine Renaissance des Nationalstaats sind die Folge. Ihren sichtbarsten Ausdruck hat diese Entwicklung bisher im Brexit gefunden. Und 2017 hat durchaus das Potenzial, weitere Absetzbewegungen hervorzubringen. Dabei ist die schwierige Lage der EU nur ein Ausdruck einer allgemeineren Entwicklung der Abkehr vom Prozess wirtschaftlicher Integration.

Die Globalisierung steht in der Kritik. Sie ist in weiten Teilen der Bevölkerung vieler Länder diskreditiert und schon seit einiger Zeit auf dem Rückzug. Die unvollendeten Freihandelsabkommen und das Drohen mit Strafzöllen seitens des US-amerikanischen Präsidenten sind dafür die jüngsten Beispiele. Die Haltung der Europäischen Union und Österreichs in der Frage einer offenen Gesellschaft mit offenen Märkten wird jetzt für einige Zeit entschieden. Da dies eine gesellschaftliche Entscheidung größeren Ausmaßes darstellt, ist es wichtig, die Vor- und Nachteile eines Festhaltens an und eines Abweichens vom Integrationsmodell mit offenen Märkten zu diskutieren.

Wiener Kollegen tauschten in dieser Rubrik ihre Standpunkte zur Rolle freien Güter- und Dienstleistungsverkehrs, freien Kapital- und Personenverkehrs in einer freien Gesellschaft aus. Primär ging es Harald Badinger, Jesus Crespo Cuaresma und Harald Oberhofer darum, darauf hinzuweisen, was wir aufgeben, wenn wir auf den protektionistischen Pfad ("Warum Protektionismus langfristig schädlich ist", in der STANDARD vom 1. Februar 2017) einschwenken, der derzeit so stark auf dem Vormarsch ist.

Verteilungsfrage

Kurt Bayer ("WU-Ökonomen: Naiv, weltfremd und blauäugig", der STANDARD vom 3. Februar 2017) ging es dagegen darum, aufzuzeigen, was wir hingenommen haben, als wir den Globalisierungsprozess weitgehend unbegleitet haben stattfinden lassen. Nicht alles, was Bayer der Globalisierung zurechnet, geht wirklich auf ihr Wirken zurück. Die ernsthafte Hinwendung zu Verteilungswirkungen, die er fordert, ist aber dringend erforderlich, wollen wir die Offenheit erhalten. Schaffen wir es nicht, mehr Menschen an einer prosperierenden, offenen Gesellschaft teilhaben zu lassen, wird dieses Gesellschaftsmodell keine Mehrheiten mehr finden und für eine längere Zeit auf seine Reaktivierung warten müssen.

Bisher ist es nicht gelungen, die positiven Wirkungen der wirtschaftlichen Integration so umzuverteilen, dass die Verlierer wirklich kompensiert werden. Das zu fordern ist leicht, das umzusetzen viel schwerer. Das ist vor allem dann so, wenn dieses Ziel nicht intensiv verfolgt wird. Darin liegt meiner Meinung nach der Vorwurf, den Kurt Bayer seinen Ökonomenkollegen macht. Um Effizienz haben wir uns gekümmert, Verteilung war nicht so hoch auf der Agenda.

Die Einschätzung teile ich zu einem gewissen Grad, die Schlussfolgerungen, die ich dar- aus ziehe, gleichen aber nicht alle jenen Kurt Bayers. Das Schwierigste an der Verteilungsfrage ist das ungeklärte Urteil darüber, was gerecht ist, oder auch nur, was Gerechtigkeit alles einbezieht. Darüber brauchen wir eine gesellschaftliche Debatte mit mindestens groben Linien, an denen man sich in der Verteilungsdiskussion orientieren kann. Ein technokratischer Zugang – sagen wir: Der Gini-Koeffizient bezogen auf das Einkommen darf x nicht übersteigen – wird nicht zwangsläufig zu mehr Gerechtigkeit und mehr Absicherung führen. Das sollte aber das Ziel sein.

Sicher wird es in dieser Diskussion auch naive, blauäugige und realitätsferne Vorschläge geben, aber auch die wird es brauchen, um letztendlich die Ziele klar formulieren zu können. Ein globaler Fonds zur Kompensation der von Outsourcing Betroffenen wird wahrscheinlich in der nächsten Zeit kein Instrument werden, das zur Korrektur der Einkommensverteilung zur Verfügung steht. Da macht es mehr Sinn, doch über eine Wertschöpfungsabgabe zu diskutieren oder sich an Vermögenssteuern zu wagen. Es wäre auch nicht gerecht, einen Arbeitslosen, dessen Stelle ausgelagert wurde, kompensiert zu sehen, einen anderen, dessen Stelle rationalisiert oder automatisiert wurde, aber nicht.

Häufig sind das aber die Alternativen. Die Vorstellung, dass bei Nichtauslagerung alles so bleibt, wie es war, wird sicher enttäuscht. Und es wäre auch nicht in unserem Interesse. Fortschritt ist zwangsläufig mit Veränderung verbunden. Die Herausforderung besteht darin, die Veränderungen so zu gestalten, dass die Probleme und Anpassungen nicht systematisch immer bei der gleichen Gruppe anfallen.

Wohlfahrtsgewinne

Das fällt in einer offenen Gesellschaft, die die Wohlfahrtsgewinne der internationalen Arbeitsteilung zur Kompensation nutzen kann, sicher leichter als in einer, die sich mit anderen in einer Protektionsmusspirale befindet. Protektionismus wird uns sicher weder weniger Ungleichheit bescheren noch Entlastung, die von der geringeren Wachstumsdynamik kommt, die mit dem Protektionismus verbunden ist. Deshalb kann ich nur hoffen, dass sich Europa Protektionismustendenzen gegenüber immun zeigen wird.

Zur Sicherung des Zusammenhalts der Gesellschaft sind dagegen Ideen gefragt. Derzeit sehe ich keine Partei, die sich dieses Themas ernsthaft annimmt. Die Diskurse in der Wissenschaft sind noch im Anfangsstadium und erreichen auch sicher nicht alle. Vielleicht wird aus der Debatte der Wiener Kollegen ja etwas entstehen, das dazu beiträgt, Offenheit und Ausgleich als gemeinsames Ziel zu verankern. (Jörn Kleinert, 7.2.2017)