Julian Reichelt führt ab sofort alle Redaktionen der "Bild"-Zeitung.

Foto: Axel Springer SE

Den Titel des "meistgehassten Journalisten" legte er spätestens im Herbst 2015 ab. In jenen Wochen, als hunderttausende Flüchtlinge an der Grenze zu Deutschland auf Asyl hofften und Bundeskanzlerin Angela Merkel ihrem Volk "Wir schaffen das!" zurief, stand Deutschlands auflagenstärkstes Boulevardblatt dahinter und hörte nicht auf, die Vertriebenen willkommen zu heißen. Unter ihnen befand sich Julian Reichelt, Onlinechefredakteur. Seit Montag ist er nach Kai Diekmann an der Spitze aller Bild-Redaktionen.

Reichelt habe Bild verändert, hieß es plötzlich voll Anerkennung, und man könnte meinen, dergleichen Lob verspräche für das Springer-Blatt eine Zukunft des Kuschelboulevards, in dem freundliche Medienarbeiter das Sagen haben und Hetze und Häme als unpassende journalistische Stilmittel ausgesondert werden.

Man sollte nicht zu viel erwarten. Denn Reichelt kann auch anders. 1980 geboren, heuerte der Hamburger mit 22 Jahren bei Bild an. Als Kriegsreporter berichtete er aus Syrien, Libyen, Afghanistan, Irak, Georgien und Libanon. Über seine Reisen schrieb er mehrere Bücher. 2014 übernahm er die Spitze der Onlineredaktion, die er sukzessive ausbaute. Zu seiner Strategie gehört eine offensive Art der Selbstvermarktung in sozialen Medien. Dort kommentiert er gern, mitunter auch heftig, und bringt Kritiker wie bildblog regelmäßig auf die Palme. Denn der Sohn aus gutem Journalistenhaushalt verfügt über einige interessante Ansichten, etwa dass Aufdecker Edward Snowden von Moskau gelenkt wurde oder dass 9/11 verhindert hätte werden können. Solchen und anderen akkurat vorgetragenen Meinungen verdankt er eben jenen Titel des "meistgehassten".

Es dürfte ihn nicht groß stören. Er habe große Freude an pointierter Auseinandersetzung, sagt Reichelt von sich.

Ähnlichkeiten mit seinem Vorgänger sind nicht zufällig: Wie sein erklärtes Vorbild Kai Diekmann eckt der Neue gern an, teils mit natürlichem Talent, teils mit absichtlicher Provokation, um den Markt zu befeuern und sich und sein Medium im Gespräch zu halten.

Mit Bild führt Reichelt eine Zeitung, deren Auflage sich in rasantem Sinkflug befindet, in eine unsichere Zukunft. "Wenn ihr Erfolge feiert, sind das eure. Wenn ihr Fehler macht, sind es meine", soll der neue Chef seiner Belegschaft am Montag eröffnet haben. Angela Merkel hätte es nicht besser sagen können. (Doris Priesching, 6.2.2017)