Das Bad in der Menge suchen: In Lucas Belvaux' Politfilm "Chez nous" wird eine Krankenschwester (Émilie Dequenne) von einer rechtspopulistischen Partei umgarnt, die dem Front National gleicht

Foto: IFFR

Internationale Filmfestivals müssen ihre politische Relevanz nicht mit entsprechend explizitem Themenkino beweisen. Sie sind gelebte Vielfalt, wenn man so will: Utopien einer besseren Welt – auch wenn auf den Leinwänden meist die defizitäre Gegenwart im Vordergrund steht. Vielleicht gilt das für kein europäisches Festival mehr als für das internationale Filmfestival von Rotterdam – einer Hafenstadt, für die gelebte Multikulturalität zur Tradition gehört, die mit immer neuen architektonischen Wagnissen stolz ihre Modernität zur Schau stellt und deren muslimischer Bürgermeister Fundamentalisten entschieden entgegentritt.

Umso unwirklicher platzten in das diesjährige 46. Festival die Nachrichten von Trumps Einreiseverboten und seinen Folgen. Suchte man auf der Leinwand direkte Antworten auf die Frage, wie es so weit kommen konnte, dass rechtspopulistische Bewegungen auch die sattelfestesten westlichen Demokratien unterwandert haben, wurde man beim neuesten Film des belgischen Schauspielers und Regisseurs Lucas Belvaux fündig.

Beliebte Krankenschwester

In Frankreich hatte schon der Trailer zu Chez nous für Schlagzeilen gesorgt. Kein Wunder, ist der Film doch ganz offensichtlich eine Intervention in den laufenden Wahlkampf für das Präsidentenamt. Belvaux erzählt von einer allseits beliebten Krankenschwester, die von einem Arzt dazu überredet wird, sich in ihrer Heimatstadt im Norden Frankreichs als Bürgermeisterkandidatin für den "Patriotischen Block" aufstellen zu lassen. An dessen Spitze steht die charismatische Agnès Dorgelle, die aus der faschistoiden Partei ihres Vaters eine rechtspopulistische Bewegung gemacht hat, die bis weit ins bürgerliche Lager Anhänger findet; Dorgelle und ihr Patriotischer Block sind natürlich eine kaum verfremdete Version von Marine Le Pen und ihrem Front National.

Erboste Reaktion auf Trailer

Überzeugend vermittelt Belvaux, wie es den Rechtpopulisten gelingt, sich als ideologiefrei zu präsentieren: pragmatisch an der Lösung der Probleme des Durchschnittsbürgers interessiert. Und wie dabei auch scheinbar linke Positionen für mehr soziale Gerechtigkeit adaptiert werden – natürlich immer nur für "echte" Franzosen. Dass dahinter ein geschlossen fremdenfeindliches und kein soziales Weltbild steckt, wird der Krankenschwester im Film erst nach und nach klar.

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Mit seiner sympathischen Heldin und deren Lernkurve zielt Belvaux auf ein größtmögliches Publikum. Ob es ihm allerdings damit gelingt, potenzielle Front-National-Wähler in der Provinz über das Kino zu erreichen, wird sich erst Ende Februar zeigen, wenn der Film in Frankreich anläuft. Dass der Front National Chez nous durchaus ernst nimmt, zeigte sich an der Reaktion auf den Trailer: Marine Le Pen gab sich empört, und ein Anwalt der Partei verunglimpfte die Produzenten des Films als "Schüler Goebbels" – ein weiteres Beispiel für die provokante Adaption "linker" Diktion durch die Rechtspopulisten.

Allegorische Erzählweise

Als Film eines erfahrenen Regisseurs war Chez nous nicht Teil des Wettbewerbs des Festivals, der für erste oder zweite Werke junger Regisseure reserviert ist. Den Hauptpreis gewann hier mit Sexy Durga erstmals ein Film aus Indien – einem Land, das seit 2014 vom rechtskonservativen, hindu-nationalistischen Narendra Modi regiert wird. Regisseur Sanal Kumar Sasidharans Werk ist auf eine ganz andere Art politisch als Belvaux' Film.

Er wählt eine abstrahierende, allegorische Erzählweise, um ein deprimierendes Bild der Geschlechterverhältnisse in seinem Heimatland zu entwerfen. Ein junges Paar versucht nachts per Anhalter zu einem Bahnhof zu gelangen. Zwei Männer nehmen sie in ihrem Kleinbus mit. Filmisch geschickt erzeugt Sanal Kumar Sasidharan im Auto ein intensives Gefühl der Gewaltandrohung gegenüber der Frau, auch wenn nichts explizit wird. Immer wieder verlässt das Paar verängstigt den Wagen.

Doch ohne die Männer haben sie keine Chance, den Bahnhof zu erreichen, in einer Nacht, die endlos scheint. Sexy Durga war in einem durchwachsenen Wettbewerbsjahrgang der formal zwingendste Film. In seiner tiefen Hoffnungslosigkeit vermochte er die dunklen weltpolitischen Wolken, die über dem Festival hingen, allerdings nicht aufzulockern. (Sven von Reden aus Rotterdam, 5.2.2017)