Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

ein Mitglied Ihrer Bundesregierung, Herr Wolfgang Sobotka, stellt Forderungen. Wir hören und lesen davon, dass er das Demonstrationsrecht deutlich einschränken will. Insbesondere postuliert Herr Sobotka,

  • Demonstrationen zu verbieten, wenn Geschäftsinteressen bedroht seien,
  • künftig einen "Versammlungsleiter" für zivilrechtliche Schäden haftbar zu machen,
  • ein spezielles ministerielles Verordnungsrecht bei drohenden wirtschaftlichen Einbußen für Geschäfte einzuführen und
  • die Anmeldefrist für Demonstrationen von 24 auf 72 Stunden zu verlängern.

Das ist ein Anschlag – ein exekutiver Anschlag auf ein nicht zuletzt von Ihrer Partei opferreich erkämpftes Recht, das in Österreich seit 1867 verfassungsgesetzlich gewährleistet ist.

Es ist die Aufgabe der auf die österreichische Verfassung vereidigten Bundesregierung, unsere Verfassung nicht nur einzuhalten, sondern sie auch zu bewahren und zu schützen.

Wer aber, wie das Mitglied Ihrer Regierung Herr Sobotka, einer zu erwartenden Verletzung von Geschäftsinteressen den Vorrang vor der Versammlungsfreiheit einräumen will, wer über Strafrecht und zivilrechtliche Haftungsregeln hinaus "Sonderschadensverantwortliche" fordert, wer über die derzeitigen polizeilichen Verbotsmöglichkeiten ein ministerielles Verordnungsrecht zum jederzeit möglichen Versammlungsverbot fordert und wer schließlich die für jede Demokratie essenzielle Möglichkeit jederzeitiger Versammlung durch die Verlängerung der Anmeldefrist unterminieren will, der ist sichtlich mit den Inhalten unserer Verfassung nicht derart vertraut, wie wir das von einem Mitglied Ihrer Regierung erwarten dürfen. Ganz im Gegenteil: Er schützt unsere Verfassung nicht, er ruiniert sie – und er desavouiert überdies die Bundesregierung, für die Sie die Verantwortung tragen.

Sie, Herr Bundeskanzler, haben persönlich bis dato keinen Zweifel aufkommen lassen, dass Sie sich den aus der Verfassung ablesbaren Grundrechten in höchstem Maße verpflichtet wissen. Diesen Zweifel würden Sie erwecken, wenn Sie nicht klar und deutlich machen würden, dass die von Herrn Sobotka geforderte verfassungswidrige Einschränkung des Versammlungsrechts verfassungsrechtlich unerlaubt ist, über die Parteigrenzen hinweg demokratiepolitisch unerwünscht sein sollte und im Hinblick auf den historischen Kampf für ein möglichst unbeschränktes Versammlungsrecht moralisch unwürdig ist.

Setzen Sie als Bundeskanzler jene Schritte, die es erlauben, an Ihrer persönlichen Verbundenheit zur österreichischen Verfassung auch weiterhin keine Zweifel aufkommen zu lassen. Bringen Sie Herrn Sobotka zur verfassungsrechtlich gebotenen Vernunft! (Alfred J. Noll, 3.2.2017)