Es ist nicht einfach, an den Ort zu gelangen, von dem sich die Abfahrtsläufer in einer Woche ins Nichts stürzen werden. In Sankt Moritz gehen Freizeitskifahrer und Weltcupfahrer auf der Hälfte der Strecke der Piz-Nair-Bahn getrennte Wege. Normalerweise fährt die Gondel am zweiten Pfosten einfach durch. Nur selten hält sie am "Freien Fall", wie dieser Ausstieg genannt wird. Da muss schon eine Herrenabfahrt bevorstehen oder ein Besichtigungstag.

Der Pfeiler steht auf schroffen Felsen, auf ihm eine mächtige Stahlkonstruktion mit der Plattform, auf die man tritt, wenn man aus der Gondel steigt. Von unten wirkt das Ganze wie eine Streichholzschachtel, die in eine senkrechte Felswand geklebt wurde. An der Plattform beginnt eine Metalltreppe mit 154 Stufen. Diese müssen die Rennfahrer nach oben gehen vor dem Start der Abfahrt – in Skischuhen und auf knapp 3.000 Metern Seehöhe.

Über eine Metalltreppe geht es in Skischuhen zum "Freien Fall", dem steilsten Starthang im alpinen Skizirkus.
Foto: Engadin-St. Moritz

Die Aussicht von ganz oben auf das weite Tal des Oberengadins mit seinen zugefrorenen Seen ist malerisch, doch der Blick die Piste herunter macht Angst. Unterhalb des Starthäuschens ist der Hang so steil, dass es einem vorkommt, als würde man ins Leere fallen, wenn man sich abstößt. 100 Prozent Gefälle – der Starthang der Herrenabfahrt von St. Moritz ist der steilste im alpinen Skisport.

"Die Rennläufer sagen immer wieder, dass es eine besondere Überwindung ist, sich ins Nichts zu stürzen", sagt Andri Schmellentin (45) vom Organisationskomitee der Ski-WM. In sechs Sekunden erreichen die Fahrer 100 Kilometer pro Stunde, eineinhalb Sekunden später fahren sie bereits 140, ein Sportwagenwert. Bei dieser Geschwindigkeit kommt dann eine scharfe Linkskurve. "Die Kompression in der Kurve ist die eigentliche Schwierigkeit", sagt Schmellentin.

Oberhalb des Starts wurde ein Hubschrauberlandeplatz eingerichtet. "Falls ein Rennfahrer die Fahrt unterwegs abbrechen muss, weil ein anderer Fahrer weiter unten gestürzt ist, wird er hier heraufgeflogen", sagt Schmellentin. Der Weg mit der Gondel und der Aufstieg zu Fuß würden zu lange dauern.

In Steigeisen neben dem Tor

Doch nicht nur für die Fahrer ist der Starthang eine Herausforderung, auch den Pistenpräparierer verlangt er alles ab. Oberhalb des Starts ist ein Metallpfosten in den Berg eingelassen. "Die Lebensversicherung für den Pistenbully-Fahrer", sagt Schmellentin. "Er hängt sich dort oben mit der Seilwinde an, während er präpariert." Während des Rennens stehen dann Bergführer mit Steigeisen an den Schuhen im Hang, um beschädigte Tore wiederaufzubauen oder Schnee aus der Spur zu entfernen. "Auszurutschen und abzustürzen wäre gar nicht gut", sagt Schmellentin und sieht für einen Moment besorgt aus.

Der Start der Abfahrtsstrecke wurde für die letzte Ski-WM in St. Moritz 2003 angelegt und seither nur noch einmal benutzt, bei der Generalprobe für die WM, dem Weltcupfinale 2016, Sieger Peter Fill. Eigentlich ist der Schweizer Skiort weniger für eine martialische Männerabfahrt als für den Weltcup der Damen bekannt, der hier fast jeden Winter gastiert.

Der Piz Nair, Hausberg der Moritzer, hält auch für Freizeitskifahrer, anspruchsvolle Abfahrten bereit.
Foto: Engadin-St. Moritz / Aestivation

"Die Männer bei den Alpinen sind Kraftmöbel, und fertig", sagt Schmellentin über den Marketingwert der Skifahrer. "Mit den Damen kann man Wellness, Wellbeing und Fashion vermitteln, da hat man viel mehr Möglichkeiten." Es gibt dazu diese Anekdote von Lindsey Vonn: Zur Beginn der Skisaison 2012/2013 in Kanada nahm die erfolgreichste Weltcupläuferin aller Zeiten einen Schweizer Journalisten zur Seite und fragte ihn, ob es denn in diesem Jahr bei den alpinen Rennen in St. Moritz wieder eine teure Markenhandtasche als Sonderedition "St. Moritz" für die Siegerin geben werde. Diesen inoffiziellen Preis hatten ihr die Veranstalter im Jahr davor gleich zweimal überreicht, nachdem sie zweimal gewonnen hatte. "Aber anscheinend gefiel ihr die Tasche so gut, dass sie gerne noch eine gehabt hätte", sagt Andri Schmellentin.

Schweiß und Schminke

Schmellentin hat sich intensiv mit den Rennläuferinnen beschäftigt und herausgefunden, dass der Zielraum für sie kein schöner Ort ist. "Die Frauen nehmen den Helm ab, die Haare sind zerzaust, das Gesicht ist von der Anstrengung gerötet", sagt er. "Und dann richten sich hunderte Kameras auf sie. Das ist vielen unangenehm." Sich vor dem Rennen zu schminken gehe andererseits nicht, weil der Schweiß die Schminke verlaufen lässt. "Die Tina und die Lindsey haben deshalb Permanent Make-up", sagt Schmellentin, er spricht von Tina Mazé, Doppelolympiasiegerin, und eben Lindsey Vonn.

So kam Schmellentin auf die Idee, direkt nach der Materialkontrolle – dort müssen alle Fahrerinnen nach dem Rennen als Erstes durch – eine "Beauty-Box" einzurichten. Diese wird es zum ersten Mal auch bei der WM geben. "Es geht dabei nicht ums Aufbrezeln, sondern um ein kleines Refreshing für die Kameras", sagt er. "Viele Fahrerinnen haben sich sehr darüber gefreut."

Nach den Damenrennen geht es in St. Moritz erst einmal in eine Art Schminkzimmer. Die Athletinnen sollen so aussehen, als würden sie gleich danach in den noblen Boutiquen im Zentrum einkaufen wollen.
Foto: APA / Barbara Gindl

Hört man Schmellentin zu, hat man manchmal das Gefühl, als spreche der Chef eines Beautykonzerns. Sieht man ihn vor sich, steht da ein Oberengadiner Koloss in Skijacke, übersät mit den Brandings der Sponsoren. Das Kümmern um die Damen hat geschäftliche Gründe. "Dass sich die Frauen ein bisschen zurechtmachen nach dem Rennen, passt sehr gut zu St. Moritz", sagt er. "Wir haben ja die ganzen Shoppingmöglichkeiten hier, wir sind eine feminine Destination."

Ob die Bob- und Skeletonfahrer, teilweise organisiert in Clubs, zu denen Frauen nicht einmal Zutritt haben, das wohl auch so sehen? Und St. Moritz ist einer der bekanntesten Wintersportorte der Welt – braucht man da eigentlich noch die Publicity einer Ski-WM? "Hier gibt es so viele Events, dass das Skifahren kaum noch wahrgenommen wird", sagt Franco Giovanoli (48), Sportdirektor der Ski-WM. "Wir wollen wieder zeigen, dass wir eigentlich ein Skigebiet sind." Nur noch 40 Prozent der Wintertouristen im Ort fahren Ski, das soll sich wieder ändern.

WM heißt staufrei

Die Akzeptanz für die Ski-WM ist hoch bei der Bevölkerung, anders als 2003, als viele Bürger einen Verkehrskollaps befürchteten. Aber schon damals hatte man die Autos der Zuschauer aus dem Tal verbannt und ihren Transport mit Bussen organisiert. "Der Verkehr lief nie so gut wie damals bei der WM", sagt Franco Giovanoli. "Man sieht der WM deshalb entspannt entgegen." Die Abstimmung über das Budget – zwölf Millionen Franken oder rund 11,2 Millionen Euro – wurde in der Gemeinde mit großer Mehrheit angenommen. Das Geld wurde verwendet, um ein neues Pressezentrum zu bauen und um Tunnel unter der Strecke zu graben, durch die die Zuschauer die Piste während des Rennens passieren können.

Herrenrennen brauche Mythen, heißt es. Dazu gehören steile Starthänge wie der "Freie Fall" oder wildes Gelände wie im Skigebiet Diavolezza.
Foto: Engadin-St. Moritz

Der Damenstart wurde ebenfalls neu gestaltet, er ist 95 Höhenmeter unterhalb der Plattform für die Männer und etwas höher gelegen als in den vergangenen Jahren. Künftig soll die Weltcup-Abfahrt der Frauen immer hier starten.

Von hier aus erreichen auch die Damen höhere Geschwindigkeiten, bis zu 125 Kilometern pro Stunde, nur wenig langsamer als die Herren. Könnten die Damen den "Freien Fall" überhaupt fahren? "Selbstverständlich, für die Top-30-Fahrerinnen im Weltcup wäre das gar kein Problem", sagt Andri Schmellentin. "Aber wo sollten wir dann die Männer fahren lassen?" Herrenrennen brauchen Mythen.

Und wird es zur WM jetzt besonders große Edeltaschen für die Siegerinnen geben? "Nein", sagt er. "Wenn es um den WM-Titel geht, sollten Medaillen Wertschätzung genug sein. Es steht die sportliche Leistung im Vordergrund." Wer weiß, vielleicht bekommt Andri Schmellentin bald auch eine Trophäe – als Rennläuferinnen-Versteher von St. Moritz. (Frederik Jötten, 6.2.2017)