John Hurt hatte in seiner über 50-jährigen Karriere in über 200 Kino- und TV-Filmen mitgespielt.

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London – Würde man sich jene Momente in Erinnerung rufen, in denen das Kino gewissermaßen zu sich selbst gefunden hat, es gäbe in Wahrheit nicht allzu viele. Vielleicht ist genau das auch notwendig, denn solche Augenblicke müssen übrig bleiben am Ende der Filmgeschichte. Den wenigsten Autoren gelingt diese Kunst ohne ihre Schauspieler, denn nur sie sind es, die uns für diese kurzen Augenblicke etwas ermöglichen: sich selbst in anderen zu erkennen.

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Wenn Anthony Hopkins in David Lynchs The Elephant Man (1980) die legendäre Träne weint, dann deshalb, weil er angesichts des Menschen, den er vor uns zu sehen bekommt, in diesem Moment genau das erfährt. Und wir mit ihm. Unter einer Unmenge an Make-up begraben, steht er dann plötzlich da, entblößt und unserem Blick so ausgesetzt wie jenem der neugierigen Meute, die ihn als Attraktion auf einem Jahrmarkt im viktorianischen London mit Faszination und Abscheu verfolgen: John Hurt, einer der feinsinnigsten Charakterdarsteller der Kinogeschichte.

Theater als Schule

John Vincent Hurt, geboren in der kleinen Stadt Chesterfield nahe Sheffield im Kriegsjahr 1940, war – und das war später sein Geschenk an die Leinwand – lange Jahre und bis zuletzt auch ein Mann des Theaters. "If I'm in theatre, cinema doesn't even cross my mind. Similarly when I'm making a film, theatre doesn't cross my mind", meinte er einmal. Möglicherweise ist man deshalb bei John Hurt, mehr noch als bei vielen anderen Schauspielern, versucht, seinen Ausdruck und seine Mimik zu beschwören, die er seinen so oft verletzten und geschundenen Figuren, seit seinem Filmdebüt in Fred Zinnemanns A Man For All Seasons (1966), verlieh. Nicht nur als "Elefantenmensch" John Merrick, eine Rolle, die er aufgrund der scheinbar beschränkten Möglichkeiten mit großem Bedenken annahm – um Lynch danach mit seinem Wissen von dramatischem Szenenaufbau zur Hand zu gehen –, sondern etwa auch seinem Auftritt 1978 in Alan Parkers Sozialdrama Midnight Express, in dem er als Drogenabhängiger in einem türkischen Gefängnis dahinvegetiert, und für das er eine Oscarnominierung als bester Nebendarsteller erhielt.

Kino der Entfaltung

Hurt verlieh seinen Figuren mit großer Sensibilität immer etwas Zerbrechliches, man möchte sagen etwas Existenzielles. Es sind Figuren, die sich der Konfrontation ausgesetzt sehen, oft jener mit sich selbst, und es ist kein Zufall, dass seine Interpretation von Becketts Einakter Krapp’s Last Band auf der Bühne bis heute zu den besten ihrer Art zählt. Dem Mainstreamkino blieb Hurt weitgehend fern, sein Leiden in der "Chestburster-Scene" in Alien währte so kurz wie seine Auftritte in US-Blockbustern wie Harry Potter, die er bis zuletzt mit großer Routine absolvierte und adelte, sporadisch blieben.

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Großer Auftritt in "Tinker Tailor Soldier Spy" (2011) nach John le Carré.
Foto: dapd

In diesem Sinn zählte John Hurt auch zu jenen, die das Kino als Möglichkeit zur eigenen Entfaltung begriffen. Ob als Gedankenverbrecher in Michael Radfords 1984 (1984), als Erzähler für Lars von Triers Dogville (2003) und Manderlay (2005), die er mit seiner markanten, sonoren Stimme intonierte – und ihnen gerade dadurch einen freundlich-zynischen Unterton verlieh. Oder auch in Form anderer Partnerschaften, die über Jahrzehnte, etwa mit Jim Jarmusch, aufrechterhielt. Man erinnere sich an sein nervöses Spiel in Dead Man (1995), oder an das elegische Vampirdrama Only Lovers Left Alive (2013), in dem er als Christopher Marlowe bis zum letzten Tropfen Blut die Werke Shakespeares verfasst.

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Geehrt beim Filmfestival von Sevilla im Jahr 2009.
Foto: reuters

Geht man dieser Tage ins Kino, kann man Hurt in seiner letzten Rolle sehen: In Jackie spielt er jenen Priester, den die Witwe Jackie Kennedy aufsucht, um das Unfassbare zu verstehen. Natürlich weiß er Trost, aber als Mann Gottes gibt er auch bestimmt und verständnisvoll zu verstehen, dass das Leben weitergehen muss, solange das eben auch für andere notwendig sei. "As Beckett said, it's not enough to die, one has to be forgotten as well", so Hurt einmal mit typisch britischer Überzeugung. John Hurt starb in der Nacht auf Samstag im Alter von 77 Jahren an Bachspeicheldrüsen-Krebs in London. (Michael Pekler, 28.1.2017)