Bundeskanzler Christian Kern und Vize Reinhold Mitterlehner.

Foto: Matthias Cremer

Die Sorge ist unüberhörbar: Die Teilung der Gesellschaft in zwei gleich starke, doch entgegengesetzte Lager hat nicht nur Österreich heimgesucht. Das gleiche Schicksal betrifft jetzt auch die USA. Und einhellig lamentieren Kommentatoren, dass die Demokratie überall Risse zeigt. Umgehend kann man von Reue lesen, schon gegen Jörg Haider zu wenig gemacht zu haben. Es war der Anfang eines Symptoms, das heute in vielen europäischen Staaten eine bedrohliche Kraft wurde.

Gleichzeitig gerät das demokratische Selbstverständnis ins Trudeln, wenn sich jetzt Demokraten über Populisten alterieren. Kaum wer beschreibt, dass die Ursache in einer Gesellschaftspolitik zu sehen ist, deren Probleme von der politischen Nomenklatur vernachlässigt worden sind – seit Jahren. Hat sich nicht die politische Nomenklatur in Europa angesichts wesentlicher Probleme sogar für unzuständig erklärt?

Der Kommissionspräsident der EU zeigt perfekt die Inkompetenz oder Handlungsunfähigkeit wie ein Kaiser beim Zusammenbruch des Römischen Reiches, ehe auch er vielleicht ein Engagement bei einer Großbank annimmt. Mit dem Bekenntnis zur Eigenständigkeit hat sich England rechtzeitig von der EU gelöst, und mit dem Bekenntnis zum Liberalismus löste sich schon früher die europäische Wirtschaft von jeder staatlichen Lenkungspolitik.

Untergeordnete Sozialpolitik

Die Sozialpolitik war dem ökonomischen Interesse untergeordnet worden. Ohnmächtig muss man in der EU die steigende Arbeitslosigkeit und die Stagnation der Löhne der letzten zehn Jahre hinnehmen. Die Schul- und Bildungspolitik kann bestenfalls mit Lippenbekenntnissen punkten, noch vor den Problemen der Gesundheitspolitik. Über Jahre bezeichnete man die Fluchtbewegung nach Europa als ein italienisches und griechisches Problem. Das "Vordringen" der Flüchtlinge bis nach Mitteleuropa war dann die Quelle diverser Entscheidungsnotstände, die die Erwartungen an die EU weiter schmälerten. Obendrein scheint diese Bewegung vom islamistischen Aggressionspotenzial durchsetzt zu sein. Die einzigen Themen von gesellschaftspolitischem Rang schienen die Homosexualität und das Rauchverbot gewesen zu sein.

Es gibt ausreichende Gründe fürs Lamento, über die aber nicht mit erforderlicher Offenheit geschrieben wird. Es erleichtert, sich der Analyse der Probleme nicht zu stellen, doch mit Moral zu lamentieren. Als Beispiel kann schon wieder Österreich gelten. Der nunmehr angelobte Bundespräsident firmiert für eine selbsternannte Mehrheit der Anständigen und Gerechten, der Antifaschisten und Demokraten alten Stils. Nichts liest man darüber, wie viele Purzelbäume dessen Wähler machen mussten, um wieder einmal die Republik zu retten.

Man liest auch nichts darüber, dass es offenbar eine lähmende Krise im Parteienstaat gibt, die die Sozialdemokraten ebenso trifft wie die Volkspartei. Beide haben ihre Kandidaten nicht in die Stichwahl gebracht. Beide rechnen dennoch damit, die Kontinuität der Republik weiterhin zu repräsentieren, um damit die koalitionäre Mehrheit und lupenreine Demokratie zu halten. Nichts ist darüber zu lesen, dass ein politisches Modell verlorengeht und welche Folgen dies haben kann.

Über den Inhalt des Entwurfs eines neuen Parteiprogramms der SPÖ liest man nur so viel, dass Josef Cap und Karl Blecha die Köpfe zusammensteckten, und andere meinen, frei nach Bruno Kreisky, auch Nichtmitglieder zu kooptieren. 70 Seiten sollen es geworden sein. Diesen wird selbst der Bundeskanzler sein Augenmerk schenken – mehr ist darüber nicht zu lesen.

Das Lamento, in Österreich die Republik zwar vor weiterem Schaden bewahrt zu haben, aber nicht in den USA, fühlt sich im Winter bei wärmendem Stallgeruch in geheizten Redaktionen gut an. Und es fehlt auch nicht am absurden Vorwurf, die "anderen", die Demokratiefeinde von Orbán bis Trump, seien die "Modernisierungsverweigerer", Ewiggestrige, zählten also nicht für Fortschritt und Demokratie. Das heißt, es ist den Lamentierenden noch immer nicht klar, dass die autoritären Zuschnitte ebenfalls zur Moderne gehören.

"Heilige" Moderne?

Die Moderne ist nicht das Heilige schlechthin, wie so oft zu lesen ist, sondern sie ist ambivalent, und in ihrem Schatten ist die politische Perversion stets präsent. Die Obszönität des neuen US-Präsidenten ist die aktuelle Schauseite der gleichen Medaille. Niemand erwähnt, dass die Gegenkandidatin der gleichen Obszönität angehört, sie nur gelungener kaschierte. Niemand schrieb, dass sie diese Außenpolitik der USA über Jahre zu verantworten hatte, die dem Nahen Osten die Katastrophe beschert hat und Europa diese menschlichen Tragödien, die mit dem Ertrinkungstod im Mittelmeer beginnen.

Das Lamento wäre sinnvoll, würde es die deutliche Emanzipation von den USA bewirken, die Überzeugung nähren, dass die bewährten sozialpartnerschaftlichen Modelle den Ausgleich von Kapital und Arbeit erlauben, man könnte sie wieder soziale Marktwirtschaft nennen, und dass die Demokratie wieder fähig sein muss, Problemlagen zu erkennen, zu benennen und zu lösen. Das alles will das Lamento erst gar nicht, denn sonst wäre es bereits zu lesen gewesen. (Reinhold Knoll, 27.1.2017)