Der Schmetterlingseffekt ist ein klassisches Beispiel aus der Chaostheorie. Er besagt, dass bei bestimmten komplexen Systemen bereits kleinste Abweichungen langfristig zu völlig anderen Entwicklungen führen können – so wie der sprichwörtliche Flügelschlag eines Schmetterlings in den Tropen, der angeblich zu einem Tornado in Texas führen kann. Die Grundlagen dafür legte Henri Poincaré mit einem Fehler.

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Am 21. Januar 1889 feierte der schwedische König Oskar II seinen 60. Geburtstag. Aus diesem Anlass tat er etwas, das heute sehr selten von Regierungsoberhäuptern getan wird: Er veranstaltete einen mathematischen Wettbewerb zur Lösung von vier noch unbeantworteten Fragen und setzte ein Preisgeld für die zu findenden Antworten aus. Damit erwies er nicht nur der Mathematik einen großen Dienst. Die Ergebnisse des Wettbewerbs haben unseren Blick auf das gesamte Universum verändert. Am Anfang dieser Entwicklung stand aber ein Irrtum.

Eine der vier Fragen mit deren Beantwortung man sich einen Preis verdienen konnte, lautet wie folgt: "Für ein gegebenes System von n sich untereinander anziehenden Teilchen, die den Newtonschen Bewegungsgesetzen folgen, soll unter der Annahme, dass es zu keinem Zweierstoß kommt, eine allgemeine Lösung gefunden werden in Form einer Potenzreihe in den Zeit und Raumkoordinaten, die für alle Werte der Zeit und Raum Koordinaten gleichförmig konvergiert." Das klingt ziemlich technisch, aber in eine etwas weniger mathematische Sprache übersetzt heißt das nichts anderes als "Ist unser Sonnensystem für alle Zeiten stabil oder nicht?"

Eine interessante und auch eine durchaus wichtige Frage! Seit Isaac Newton im 17. Jahrhundert sein Gravitationsgesetz formulierte, war man prinzipiell in der Lage, die Bewegung von Himmelskörpern mathematisch zu verstehen. Man konnte auch die mathematischen Gleichungen aufzustellen, mit der sich die Bewegung aller Planeten des Sonnensystems beschreiben ließ. Was man nicht konnte, war diese Gleichungen auch zu lösen. Würde man eine entsprechende Lösung finden, wäre es auch möglich die Bewegung der Himmelskörper für alle Zeiten voraus zu berechnen (zumindest theoretisch, in der Praxis wäre so ein Vorhaben an der damals noch fehlenden Rechenkraft durch Computer gescheitert).

Preiswürdige Gleichungen für drei Himmelskörper

Zu denen, die sich an einer Lösung versuchten, gehörte auch der französische Mathematiker Henri Poincaré. Die Jury ließ seinen Beitrag zum Wettbewerb zu, obwohl er sich "nur" mit der Bewegung von drei Himmelskörpern beschäftigte. Aber auch diesen Fall konnte man bisher nicht lösen, da die Gleichungen dafür viel zu komplex waren. Poincaré allerdings kam in seiner 158-seitigen Arbeit zu dem Schluss, dass eine Lösung gefunden werden konnte und die Bewegung von drei Himmelskörpern unter ihrer wechselseitigen gravitativen Anziehungskraft stabil sei. Dieses Ergebnis wurde als preiswürdig anerkannt und sollte in der entsprechenden Fachliteratur publiziert werden. Der Herausgeber der Fachzeitschrift hatte zuvor aber noch ein paar Fragen an Poincaré. Einige Punkte in seinem mathematischen Beweis waren für ihn nicht ganz nachvollziehbar und er bat Poincaré, sie genauer auszuführen.

Das tat Poincaré – und erlebte genau das, was kein Wissenschaftler erleben will: Die kleinen Korrekturen wurden immer umfangreicher und schließlich musste er feststellen, dass sich da nichts mehr korrigieren ließ. Er hatte einen Fehler gemacht. Sein Ergebnis war falsch. Das Problem der drei Himmelskörper war nicht lösbar. Die schon gedruckte Ausgabe der Fachzeitschrift musste zurück gezogen werden. Ein neuer Artikel mit einem neuen Ergebnis musste gedruckt werden und Poincaré hatte die Kosten dafür zu tragen, die die Summe des Preisgeldes deutlich überstiegen.

Das alles klingt nach einer ziemlich deprimierenden Geschichte. Und natürlich ist es deprimierend, wenn man einen Fehler macht; ganz besonders als Mathematiker, wo ein einziger Fehler das gesamte Ergebnis zu Fall bringt. Aber Poincaré tat viel mehr als nur festzustellen, dass er sich geirrt hatte. Bei seiner Überarbeitung des Artikels fand er heraus, warum er keine Lösung für die ursprüngliche Frage finden konnte: Es gab so eine Lösung nicht und Poincaré konnte zeigen, warum es sie nicht geben konnte. Seine mathematische Analyse der Wechselwirkung bei der Bewegung dreier Himmelskörper war nichts anderes als der Beginn der modernen Chaostheorie.

Zu komplex für eine exakte Lösung

Poincaré entdeckte, dass bestimmte dynamische Systeme so enorm komplex sein können, dass es schlicht und einfach nicht möglich ist, eine mathematisch exakte Lösung für ihr Verhalten zu finden. Nicht, weil man zu dumm dazu wäre, sondern weil sie tatsächlich nicht vorhanden ist. Die Komplexität der gravitativen Wechselwirkung der Himmelskörper ist genau so ein System und das auftretende Chaos macht eine exakte Vorhersage ihrer Bewegung unmöglich.

Mittlerweile nutzt man numerische Methoden um die Bewegung der Planeten am Computer zu simulieren und kann damit wenn auch nicht exakt dann zumindest näherungsweise vorhersagen, wie sie sich bewegen werden. Diese Näherungen sind aber immer noch gut genug, um beispielsweise Raumsonden punktgenau durchs All zu steuern und dort landen zu lassen, wo sie landen sollen.

Das Chaos ist seit Poincaré ein fixer Bestandteil der modernen Naturwissenschaft. Es hat unseren Blick auf die Vergangenheit des Sonnensystems verändert, und wir wissen heute sehr gut, welche Rolle die Instabilität gespielt hat. Die mathematische Nicht-Existenz einer exakten Lösung äußert sich astronomisch im Vorhandensein von Kollisionen zwischen Himmelskörpern, zwischen Asteroiden und Planeten zum Beispiel, ohne die unser Planet nicht so geworden wäre wie er heute ist.

Poincarés Irrtum hat uns einen völlig neuen Blick auf die Welt eröffnet. Das chaotische Universum, das er uns gezeigt hat, lässt sich nicht mehr so leicht untersuchen wie der deterministische Kosmos, von dem man zuvor ausgegangen war. Aber das Chaos hat die Welt auch sehr viel interessanter gemacht! (Florian Freistetter, 24.1.2017)