Christoph Hackspiel ist Psychologe und leitet das "Vorarlberger Kinderdorf", die größte Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe des Landes aus Vorarlberg.

Foto: Regine Hendrich

Wien – Stress, Hoffnungslosigkeit, depressive Stimmungen oder Aggressionen – in vielen Familien Österreichs ist das trauriger Alltag. In viel zu vielen, sagt die Liga für Kinder- und Jugendgesundheit und warnt vor einem Anstieg: "Es gibt viele Kinder, die ausgesprochen gute Bedingungen haben, so gute, wie vielleicht nie zuvor. Aber dann gibt es die vielen, vielen anderen. Da gibt es eine Schere, die auseinandergeht", sagt der neue Präsident der Kindergesundheitsliga, Christoph Hackspiel, zum STANDARD.

Rund 300.000 Kinder seien von Armut bedroht, die Hälfte wachse "in schwierigen ökonomischen Bedingungen auf", legt der Vorarlberger Psychologe und Psychotherapeut Zahlen vor. "Wir haben in Österreich auch immer mehr Kinder mit einem seelischen Problem, die sich nicht anerkannt fühlen, die sich isoliert fühlen und depressiv oder aggressiv reagieren", warnt er. Mehr als 50 Prozent aller Kinder würden in unterschiedlicher Form Gewalt erleben. "Schlagen steht unter Strafe, ist aber doch ein Stück weit immer noch akzeptiert. Und das zieht sich durch alle Schichten", sagt Hackspiel.

Versagen der Politik

Der Vorarlberger – im Brotberuf Geschäftsführer des Vorarlberger Kinderdorfs, der größten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung im Land – sieht ein Versagen der Politik in diesem Bereich: "All den politischen Entscheidungen ist eines gemein: Zuerst werden ambitionierte Ziele gesetzt, aber da die Budgetmittel begrenzt sind, parkt man die Themen dann in langwierigen Arbeitsgruppen. Es wird verschoben und verzögert." Viele Maßnahmen seien Ländersache. Der Haken daran: "Die Standards sind aufgrund des Föderalismus sehr unterschiedlich." Als Beispiel nennt er die unterschiedlichen Betreuungsschlüssel bei Wohngemeinschaften von Kindern, die aus verschiedensten Gründen nicht bei ihren Eltern leben können. Die Kinderliga will jetzt eine Österreich-Karte erarbeiten, die zeigt, "wie es um die Versorgung in den einzelnen Bundesländern bestellt ist". Wobei die Datenlage schwierig ist, da es an Vernetzung fehle, wie die Kinderliga seit mittlerweile Jahren klagt. Empfohlen wird daher auch eine aus Expertinnen und Experten sowie Abgeordneten zusammengesetzte "Parlamentarische Kinderkommission", um den kindergesundheitspolitischen Anliegen mehr Gewicht zu geben. Das umfasse eine bessere Abstimmung aller Ressorts zum Wohl der Kinder.

Armut über Generationen verfestigt

Gefordert wird auch, dass alle Formen der Therapien über die Krankenkassen finanziert werden, denn: "Solange diese die Kosten nicht übernehmen, muss der Patient privat vorfinanzieren. Er bekommt dann aber nur einen kleinen Teil rückerstattet." Ärmere Familien können sich das oft nicht leisten. "Und das bei Kindern, wo jeder Entwicklungsmonat entscheidend ist", ärgert sich der Psychologe: Ob es bei Kindern eine Zwei-Klassen-Medizin gibt? Hackspiel: "Teilweise ist das wohl so." Zusätzlich gebe es Strukturen, in denen sich Armut oft über Generationen verfestigen könne: "Bei einem Teil davon muss man sagen: Das ist strukturelle Gewalt."

Aber was tun? Hackspiel verweist auf das Programm der "Frühen Hilfen", wo Experten und Expertinnen Familien in der ersten Lebensphase eines Kindes unterstützen. "Oft geht es auch nur um ganz banale Fragen: Wo bekomme ich Hilfe? Damit die Leute nicht, wenn sie überfordert sind, die Vorhänge zuziehen, sich vor den Fernseher setzen und alles laufen lassen, weil sie einfach nicht mehr weiterwissen." Nur die Kinder "in den Fokus zu nehmen", sei daher falsch: "Wir müssen der gesamten Familie helfen." Werde dies verabsäumt, drohen gesundheitliche Schäden bis zu sozial auffälligem Verhalten."Das wird auch gesellschaftlich relevant und verursacht ein Vielfaches mehr an Folgekosten. Es kann sogar bis hin zur prekären Situation im sozialen Frieden führen", sagt Hackspiel.

"Willkommensbesuche" nach Geburt

Der Psychologe schlägt generell "Willkommensbesuche" bei Eltern, die gerade ein Kind bekommen haben, vor: "Einerseits kann so signalisiert werden, dass die Geburt des Kindes geschätzt wird. Andererseits ist es ein Weg zu zeigen, dass jemand zur Verfügung steht. Am besten wäre, dies liefe über kommunale Vernetzungen. Die Schwelle, Beratungseinrichtungen aufzusuchen, ist für sozial Isolierte oft zu groß: Wir müssen mehr ins Feld hinaus. Das gilt sowohl im Einzelfall genauso wie im sozialpolitischen Diskurs." (Peter Mayr, 23.1.2017)