Bild nicht mehr verfügbar.

Der türkische Staatschef Tayyip Erdoğan sehe derzeit überall Feinde, sagt HDP-Politiker Garo Paylan.

Foto: Kayhan Ozer/Presidential Press Service, Pool Photo via AP

STANDARD: Wie denkt die Gesellschaft in der Türkei über die Einführung eines Präsidialsystems? Umfragen zeigen, dass es jetzt keine Mehrheit dafür gibt. Aber niemand traut heutzutage noch Umfragen ...

Paylan: Ja, das ist wahr. Die Gesellschaft steht immer noch unter Schock, würde ich sagen. Die Kurden leiden unter dem Zusammenbruch des Friedensprozesses, ihre Städte sind zerstört. Aber auch die Konservativen sind geschockt. Tayyip Erdoğan spricht jetzt von einem neuen Unabhängigkeitskrieg. Überall sieht er Feinde, im Inneren wie im Ausland. Das ist der Diskurs des alten Status quo in der Türkei. Erdoğan hat sich dem zugewandt, weil auch er einen Schock erlitten hat. Er dachte, er wäre so mächtig, doch dann geschah der Putsch. Deshalb ist er eine stille Koalition mit den Nationalisten eingegangen. Jeder in der Türkei ist also in der einen oder anderen Weise geschockt, desorientiert. Das Volk aber weiß im Grunde nichts über das Präsidialsystem. Die Leute sorgen sich um ihre eigene Zukunft und die ihrer Familien. Sie überlegen nur, was die weniger schlechte Option ist. Erdoğan sagt ihnen: Mit dem Präsidialsystem gewinnen wir den Unabhängigkeitskrieg, wir werden mit dem Terrorismus fertig, und ich mache die Türkei stark.

STANDARD: Was erwarten Sie von der EU, falls es wirklich zu einem autoritären Präsidialsystem in der Türkei kommen sollte? Beitrittsgespräche einfrieren oder abbrechen?

Paylan: Die EU muss im Dialog sein mit der türkischen Führung. Doch die Europäer haben geschwiegen angesichts des Endes des Friedensprozesses in der Türkei vor zwei Jahren und der vielen Verbrechen, die seither begangen worden sind. Alles wegen der Flüchtlingskrise und Erdoğans Drohung, die Flüchtlinge nach Europa zu schicken. Vor allem Angela Merkels Politik war fürchterlich für uns. Die Europäer haben keinen Plan für die Türkei, außer zu schweigen und die Türkei als Pufferzone für die Flüchtlinge zu benutzen. Indem sie aber schweigt, wird die EU hier ein weiteres Russland bekommen.

STANDARD: Was sollten die Europäer also tun?

Paylan: Ich sage nicht, dass die EU die Türkei mit Sanktionen belegen soll. Aber sie soll Zuckerbrot und Peitsche zeigen. Sie sollte Erdoğan zumindest mit Handelssanktionen drohen und nicht – was sie tut – einfach von vornherein eine Reform der Zollunion und besseren Handel versprechen. Denn Erdoğan geht es nur ums Geschäftemachen. Das ist die Trump-Perspektive, die Putin-Perspektive und eben auch die Erdoğan-Perspektive.

STANDARD: Sie sind gerade für drei Sitzungen im Parlament suspendiert worden, weil Sie in einer Rede im Plenum den Genozid an den Armeniern einen Genozid genannt haben. Was aber hat der Völkermord mit der jetzigen Verfassungsdebatte zu tun?

Paylan: Die Verfassungsdebatte begann schon vor 150 Jahren, noch in osmanischer Zeit. Die Griechen und die Armenier haben sich damals für das Prinzip der Gleichheit eingesetzt und dies auch erreicht. Dann aber kam Sultan Abdülhamit und hat Parlament und Verfassung abgeschafft. 35 Jahre später, zu Beginn der Republik, hieß es, dies sei die Verfassung der Türken. Ich finde das schlecht. Jetzt hat im Parlament ein Abgeordneter der MHP wieder von der "Verfassung der Türken" gesprochen. Wir haben den Völkermord erlitten, wir haben vier Volksgruppen verloren – die Griechen, die Juden, die Assyrer und die Armenier. Wir haben alle unseren Glauben in den Pluralismus und die Vielfältigkeit verloren. Lasst uns das also nicht wieder tun, habe ich im Parlament gesagt. Ich habe schon mehrmals den Begriff "Genozid" im Parlament verwendet, aber dieses Mal war es plötzlich ein großes Problem. Wenn ihr Garo nicht aus dem Parlament werft, unterstützen wir nicht die Verfassung, hat die MHP der AKP-Regierung gesagt. Und die AKP antwortete: Okay, dann werfen wir Garo hinaus. Ich hatte nicht vor, über den Genozid zu sprechen, aber es war normal für mich, das zu sagen. Die Verfassung muss pluralistisch sein und die verschiedenen Volksgruppen achten. Das war mein Punkt. Ich nehme an, mit dieser neuen AKP-MHP-Koalition werden nun weitere Begriffe wieder verbannt.

STANDARD: Zehn Jahre nach dem Mord am Journalisten Hrant Dink ist der Fall immer noch nicht wirklich aufgeklärt. Glauben Sie, die Säuberungen der Justiz von angeblichen Mitgliedern des Gülen-Netzwerks werden nun Bewegung in die Ermittlungen bringen?

Paylan: Es gab damals, 2007, eine Koalition übler Kräfte – Nationalisten, Gülenisten, Personen, die der AKP-Regierung nahestanden –, und diese hatten nur ein gemeinsames Interesse: Hrant Dink muss umgebracht werden. Sie teilten auch die übliche Ideologie, wenn es in der Türkei um Armenier geht, aber sie hatten alle unterschiedliche Ziele. Den Gülenisten ging es darum, den Mord zu benutzen, um die angeblichen Ergenekon-Verschwörer zu beschuldigen und um an die Macht zu kommen. Das hat auch funktioniert. Die Nationalisten sagten: Hrant Dink muss sterben, weil er vom Genozid spricht, und das kann nicht erlaubt werden. Jetzt ist die Stunde der Revanche. Die Regierung nutzt den Fall, um die Gülenisten zu beschuldigen. Doch in Wahrheit wussten alle Akteure, der ganze Sicherheitsapparat über den Mordplan Bescheid. Aber sie taten nichts, um ihn zu verhindern. Aus diesem Grund haben wir auch zehn Jahre nach dem Mord noch keine Gerechtigkeit für Hrant Dink erreicht. Wir haben nicht einmal damit begonnen. (Markus Bernath aus Ankara, 23.1.2017)