Das, was die Sonderschulen und speziell ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen leisten, dürfe nicht einfach abgeschafft werden, warnen Lehrervertreter.

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Wien – Geht es nach Bildungsministerin Sonja Hammerschmid (SPÖ), dann soll es "mittelfristig" keine Sonderschulen mehr geben. Im Jahr 2020 solle diese Schulform die "Ausnahme" sein und die derzeit dort lernenden Kinder in "inklusiven Mittelschulen" nach einem eigenen Lehrplan unterrichtet werden, sagte die Ministerin zu Jahresbeginn. In anderen Ländern, etwa in Südtirol, gibt es gar keine Sonderschulen mehr.

Diese Vorstellung sorgt jedoch für einige Aufregung, sagt der Vorsitzende der Pflichtschullehrergewerkschaft, Paul Kimberger, im STANDARD-Gespräch: "Es gibt eine breite Front gegen die Abschaffung der Sonderschulen – nicht nur in der Lehrerschaft, sondern auch bei vielen Eltern."

An der Schulrealität vorbei

Dabei, betont der Lehrervertreter, gehe es nicht um ein grundsätzliches Nein zu inklusiver Beschulung, aber: "Wer Inklusion fordert, sollte die Realität in den Schulen kennen und von dieser ausgehen, um für Kinder mit besonderen Bedürfnissen etwas zu verbessern."

Kimberger vermisst einen "klaren gesellschaftlichen Konsens, um Inklusion zu einer langfristig machbaren und motivierenden pädagogischen Perspektive zu entwickeln. Inklusion kann nicht einfach an die Schulen delegiert werden." Viele Pädagogen fürchten, dass die Idee inklusiver Bildung für alle Kinder ihnen alleine überantwortet wird, ohne dass die Politik die dafür nötigen Rahmenbedingungen schafft: "Öffentliche Schulen können nur das leisten, was auch gesellschaftlich mitgetragen wird." Laut Kimberger sagen ihm betroffene Eltern, "dass ihre Kinder kein anderes Betreuungsverhältnis als das jetzt in sonderpädagogischen Fördereinrichtungen gebotene vertragen – und ich verstehe diese Angst."

Rhetorisches Ja zu Inklusion reicht nicht

Er untermauert die Bedenken der Lehrergewerkschaft mit Zahlen, aus denen er ein nur bedingtes Bekenntnis der Regierung zur Inklusion abliest: "Im Finanzausgleich für 2017 bis 2021 bleibt der skurrile Deckel mit 2,7 Prozent für Sonderpädagogik. Tatsächlich haben wir inzwischen einen Bedarf von rund fünf Prozent. Tendenz stark steigend, vor allem durch verhaltensauffällige Kinder, die uns immer größere Probleme machen. Aber dafür gibt es nicht mehr Geld." Ohne ausreichende Ressourcen sei inklusive Schule aber nicht machbar.

Schon jetzt würden – nimmt man skandinavische Länder als Vergleich – österreichweit rund 2600 bis 3000 Sonderpädagoginnen und -pädagogen fehlen. "Wie soll da Inklusion gelingen, die den Kindern gerecht wird und die Lehrerinnen und Lehrer nicht total überfordert?"

Kimberger empfiehlt der Regierung einen Blick nach Skandinavien: "Dort ist Sonderpädagogik über das gesamte pädagogische Leistungsspektrum – inklusive Hochbegabung – institutionalisiert. Das würde ich mir wünschen." Ganz ohne "spezialisierte Angebote für besondere Förderung, Therapie und Beratung" werde es ohnehin nie gehen, ist der oberste Lehrervertreter im Pflichtschulbereich – nur dort findet derzeit "integrierter Unterricht" statt – überzeugt.

UN-Konvention fordert inklusives Bildungssystem

Laut UN-Behindertenrechtskonvention, die Österreich 2008 ratifiziert hat, muss "ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen" gewährleistet werden.

Aktuell sieht es in Österreich laut Statistik Austria so aus: Im Schuljahr 2015/16 gab es 290 Sonderschulen mit 13.813 Schülerinnen und Schülern (inklusive derer, die nach Sonderschullehrplan in anderen Schulen unterrichtet wurden). Insgesamt lag die Zahl der Pflichtschulkinder, denen "sonderpädagogischer Förderbedarf" (SPF) bescheinigt wurde, bei 30.701, was einen Anteil von 5,4 Prozent SPF-Schülern an der Pflichtschulpopulation ergibt.

Etwas mehr als ein Drittel dieser Kinder (35,8 Prozent) besuchte Sonderschulklassen, 64,2 Prozent wurden "integriert" unterrichtet, ein Viertel davon in Volksschulen, fast ein Drittel in einer Neuen Mittelschule, 3,8 Prozent in einer Hauptschule, 3,4 Prozent in einer Polytechnische Schule.

Regionale Auffälligkeiten

Dabei zeigen sich einige Auffälligkeiten, sowohl was die Einstufung von Kindern in die SPF-Kategorie (dafür bekommt die Schule mehr Ressourcen) als auch deren konkrete schulische Versorgung anlangt: So werden in Kärnten mehr als vier von fünf SPF-Kindern (82,9 Prozent) in Integrationsklassen in Pflichtschulen unterrichtet, auch die Steiermark integriert 80,7 Prozent dieser Kinder und schickt nur 19,3 Prozent in eine Sonderschule. Während in Tirol (50,3 Prozent), Niederösterreich (51,5) und Wien (55,1 Prozent) nur jedes zweite Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf "integriert" beschult wird.

Interessant ist auch, dass Niederösterreich mit 93 Sonderschulen mehr als zweieinhalbmal so viele hat wie Wien, das nur knapp 90.000 Einwohner mehr hat, aber mit 36 Sonderschulen auskommt.

Überdurchschnittlich viele Kinder mit Migrationshintergrund

Oft kritisiert wird auch, dass überdurchschnittlich viele Kinder mit nichtdeutscher Umgangssprache in Sonderschulen landen. Beträgt ihr Durchschnittsanteil in allen Schultypen 23,8 Prozent, steigt er in den Sonderschulen auf ein Drittel (33,2 Prozent). Auch da gibt es große regionale Unterschiede. Im Burgenland und in Kärnten sind beide Anteile ungefähr gleich, in Oberösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg, Wien und der Steiermark hingegen liegt der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in Sonderschulen um zehn und mehr Prozentpunkte über ihrem Anteil an der Gesamtschülerschaft des Landes. (Lisa Nimmervoll, 23.1.2017)