Das Rote Wien war prägend für Kari Polanyi Levitt.

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STANDARD: Worin besteht die aktuelle Bedeutung des Werks Ihres Vaters Karl Polanyi?

Polanyi Levitt: In den vergangenen Jahrzehnten gab es ein Revival von Polanyis Theorien. Besonders zu seinem Buch "The Great Transformation", das sich mit dem Niedergang der Zivilisation im 19. Jahrhundert bis hin zur Großen Depression befasst, gibt es einige unangenehme Parallelen zur Gegenwart, die sich gerade in letzter Zeit gezeigt haben, etwa durch das Brexit-Votum in Großbritannien und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten.

STANDARD: Sie wurden 1923 in Wien geboren und flohen 1934 nach Großbritannien. Mit welchen Gefühlen kehren Sie nach Österreich zurück?

Polanyi Levitt: Ich komme immer sehr gerne zurück. Ich habe sehr schöne Erinnerungen an Wien, weil ich dort eine glückliche Kindheit verbracht habe.

STANDARD: Ihre Eltern waren begeistert vom Roten Wien – wie stehen Sie dazu?

Polanyi Levitt: Das Rote Wien war sehr wichtig in meiner Kindheit. Ich werde manchmal gefragt, welche Rolle Religion in meiner Familie gespielt hat, ob wir jüdisch oder katholisch gelebt haben. Darauf sage ich immer: Wir waren ein sozialistischer Haushalt. Ich bin zu den Kinderfreunden gegangen und zum Arbeiterturnverein.

STANDARD: Ihr Vater hat Österreich 1933 verlassen, Sie sind ihm ein Jahr später gefolgt – erinnern Sie sich an die damaligen Umbrüche?

Polanyi Levitt: Ich erinnere mich sehr gut an den Februar 1934, das war ein prägender Moment für mein Leben. Am ersten Tag des Bürgerkriegs, dem 12. Februar, war ich auf dem Weg zur Schule, als ich sah, dass alle Uhren stehen geblieben waren. Es gab einen Generalstreik. Ich ging nach Hause zurück, und meine Mutter, die Aktivistin war, übertrug mir die Verantwortung für meine Großmutter und das Haus. So fühlte ich mich mit meinen zehn Jahren sehr wichtig. Als ich eine Woche später wieder in die Schule ging, fehlten viele Lehrer. Sie waren verhaftet worden. Kurz danach wurde ich nach England geschickt.

STANDARD: Wie denken Sie über die aktuelle Flüchtlingskrise vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Lebensgeschichte?

Polanyi Levitt: Ich kann verstehen, dass es für viele Europäer nicht einfach ist, dass nun so viele Menschen ankommen. Dennoch: Österreich und die europäischen Staaten sind reiche Länder, die könnten eine Million Flüchtlinge aufnehmen. Ich lebe heute in Kanada – einem Land von Immigranten. Dort hat die Bevölkerung von der Regierung verlangt, dass syrische Flüchtlinge aufgenommen werden. Was mich am meisten traurig macht, ist, dass von der Politisierung des Flüchtlingsthemas die Rechten profitieren.

STANDARD: Überrascht Sie der Aufstieg der Rechtspopulisten?

Polanyi Levitt: Leider überrascht mich das nicht. Denn genauso hat sich die Geschichte auch schon früher abgespielt. Das Buch meines Vaters handelt von den Gründen, warum Regierungen in Europa als Reaktion auf den zunehmenden Druck des Marktes in den Faschismus marschiert sind. Dazu gibt es Parallelen zur Globalisierung von heute. Die Plötzlichkeit, mit der sich Veränderungen vollzogen haben, dass Länder, die zuvor ethnisch relativ homogen waren, sich nun in Gesellschaft mit Menschen verschiedener Herkunft finden, führt zu Problemen. Für die Flüchtlingsbewegungen mache ich die westlichen Mächte verantwortlich – dafür, dass sie sich im Mittleren Osten eingemischt haben. Als Ergebnis ist die Welt nun bedrohlich chaotisch.

STANDARD: Sie haben eine akademische Karriere als politische Ökonomin gemacht – gab es zwischen Ihnen und Ihren Eltern inhaltliche Differenzen?

Polanyi Levitt: Ich wurde sehr unabhängig erzogen. Mit zehn Jahren wurde ich allein nach England geschickt – meine Mutter blieb in Wien zurück, und mein Vater konnte nicht auf mich aufpassen. Er wusste nicht einmal, wie man eine Tasse Tee zubereitet. So lebte ich bei Freunden und war schon früh sehr unabhängig. Ich hatte aber immer sehr gute Beziehungen zu beiden meiner Eltern, und wir diskutierten viel. Mein Vater war eine sehr nette, freundliche Person, immer bereit, in eine intellektuelle Diskussion einzusteigen – mit jedem zu gleichen Bedingungen, auch mit mir, selbst als ich noch sehr jung war.

STANDARD: Dennoch dauerte es, bis Sie seine Werke studiert haben ...

Polanyi Levitt: Ja, den Werken meines Vaters ließ ich lange nicht viel Aufmerksamkeit zukommen. Das änderte sich erst durch den Tod meiner Mutter 1978, denn dann kam das Erbe meines Vaters zu mir. So musste ich Verantwortung für die Archivierung und Verbreitung seiner Schriften übernehmen. Erst seither habe ich mich intensiv mit seinem Werk beschäftigt. Das neue Interesse an der Arbeit meines Vaters freut mich sehr, besonders, dass darunter so viele junge Menschen sind. Auch, dass dabei Wissenschafter verschiedener Disziplinen zusammenkommen. Die Disziplinen existieren oft getrennt voneinander, und so wird es schwer, über wirklich wichtige Themen an den Universitäten nachzudenken. (Tanja Traxler, 18.1.2017)