"Es hat mich immer fasziniert, etwas herzustellen, das tief im Zuschauer etwas aufscheinen lässt, das möglicherweise einer Wahrheit nahekommt": Werner Herzog hat in einer Sitzreihe des Metro-Kinokulturhauses Platz genommen.

Foto: Robert Newald

Wien – Mehr als 60 Filme hat Werner Herzog in 45 Jahren gedreht. Darunter Kurzfilme, Dokumentationen sowie Spielfilme, deren Bilder sich – etwa wenn Kinski in Fitzcarraldo (1982) ein tonnenschweres Dampfschiff im südamerikanischen Urwald über einen Berg schleppen lässt – in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben.

Grenzen und deren Überschreitungen sind Themen, die Herzog, der in der Antarktis, in Wüsten oder im Hochgebirge drehte, von Anfang an interessierten. Das Filmarchiv Austria widmet dem 1942 in Bayern geborenen, seit 20 Jahren in Los Angeles lebenden Filmemacher im Metro-Kinokulturhaus nun eine umfangreiche Retrospektive (bis 1. März).

Als österreichische Erstaufführung wird auch Herzogs neuer Spielfilm Salt and Fire (18. 1. und 26. 1., mit Veronika Ferres und Michael Shannon) gezeigt, in dem eine deutsche Wissenschafterin im Auftrag der UN eine von Geschäftemachern herbeigeführte Umweltkatastrophe untersuchen soll. Gedreht wurde in der größten Salzwüste der Welt in Bolivien.

Doch Herzog wäre nicht Herzog, würden seine Figuren nicht auch in diesem Film auf die großen Menschheitsfragen zurückgeworfen. Etwa indem die Hauptdarstellerin entführt und im Niemandsland zusammen mit zwei blin- den Burschen ausgesetzt wird. Gestellt wird unter anderem die Frage nach Wirklichkeit und einer mit Mitteln der Kunst hergestellten tieferen Wahrheit.

STANDARD: Sie sprechen oft von der "ekstatischen Wahrheit", was meinen Sie damit?

Herzog: Man kann es vielleicht mit einer religiösen Gotteserfahrung von spätmittelalterlichen Mystikern vergleichen, die ein ekstatisches Gotteserlebnis hatten. Ich meine damit nicht eine Gotteserfahrung im Kino, sondern die Erfahrung einer Wahrheit, die ein inneres Leuchten hat. Dieses lässt sich nicht durch ein Aneinanderreihen von Fakten erzeugen. Es hat mich immer fasziniert, etwas herzustellen, das tief im Zuschauer etwas aufscheinen lässt, das möglicherweise einer Wahrheit nahekommt.

STANDARD: Neben der gewaltigen Landschaft kommen in "Salt and Fire" Motive wie Blindheit oder ein sprechender Vogel vor, die wir aus früheren Filmen kennen.

Herzog: Ja, das Schöne an dieser Retrospektive ist, dass Sie ein einigermaßen geschlossenes Weltbild sehen können. Die Filme hängen, obwohl ihre Themen so unterschiedlich sind, wie's nur geht, durch eine bestimmte Sehweise miteinander zusammen. Die grundsätzliche Sichtweise auf die Welt ist in meinen Filmen ziemlich kohärent.

STANDARD: Ihre Mutter war Wienerin, Ihre zweite Frau Österreicherin, sie haben in Wien gelebt und waren 1991 Direktor der Viennale. Allerdings, so las ich, war Wien für Sie so etwas wie das Epizentrum der Hoffnungslosigkeit.

Herzog: Nein. Ich glaube, da habe ich mal André Heller zitiert: das Epizentrum der Entmutigung. Gut, es gab etliches Entmutigendes, zum Beispiel an der Viennale. Ich hatte außerordentliche Anstrengungen unternommen, um einen großen französischen Regisseur herzuholen: Jean Rouch. Er kam also, und wir sind im Apollo-Kino, das war damals sehr groß, mehr als 500 Sitze, auf die Bühne getreten. Es saßen 32 Leute im Saal. Dieser Schrecken hat mich nie ganz verlassen, das war sehr entmutigend. Aber Wien war auch eine schöne und wichtige Zeit. Zudem gibt es keine Stadt, die bisher eine vollständige Retrospektive meiner Arbeiten gezeigt hat. Jetzt macht es Wien.

STANDARD: Gibt es Filme, die Ihnen im Rückblick mehr am Herz liegen?

Herzog: Einige der ganz frühen Filme muss man nicht ganz so wichtig nehmen, das waren Fingerübungen, meine Filmschule. Ansonsten ist es wie bei einer Mutter mit ihren Kindern. Jedes Kind ist anders geraten, doch die Zuneigung zu ihnen ist gleich. Allerdings versuche ich, die schwächsten mehr zu bemuttern.

STANDARD: Welche?

Herzog: Komischerweise fluktuiert das. Manchmal dachte ich, man muss Fata Morgana (1971) bemuttern. Stimmt aber gar nicht, das ist ein total rabiater Film. Er ist so eigenartig und störrisch, eigenwillig in seinen Visionen. Zudem zeigt der Film eine grundsätzliche Haltung, indem ich so tue, als wäre ich der Erfinder des Kinos, als hätte niemand bisher je Filme gemacht.

STANDARD: In den USA interessieren sich viele 20- und 30-Jährige für Ihr Werk.

Herzog: Mittlerweile schon 15-Jährige. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass meine Filme auf einmal übers Internet zugänglich sind, sie müssen also in Missoula, Montana, nicht ein Jahrzehnt warten, bis dort vielleicht einer meiner Filme im Kino läuft. Die massivste Resonanz kommt aber nicht aus den USA, sondern aus anderen Ländern. Indien, Brasilien zum Beispiel, oder Russland. Ich hatte dort neulich einen Film laufen, es regnete und war eiskalt, eine Freilichtaufführung in St. Petersburg. Es standen 20.000 Menschen im Freien und haben sich meinen Film angeschaut.

STANDARD: Auf was führen Sie diese Faszination zurück.

Herzog: Meine Filme sind einfach besser als die anderen. So einfach ist das.

STANDARD: Im Vorfeld der amerikanischen Wahlen haben Sie das "Trump-Gejammere" als "Bettnässerei" bezeichnet. Er wurde gewählt, was sind die Folgen?

Herzog: Das wird ungewöhnlich. Die Risiken sind deutlich, und die ungewöhnlichen Möglichkeiten sind auch da. Wir wissen es alle nicht. Sagen wir es einmal so, mich hat immer gestört, dass in den USA unter Bekannten von mir, die von der Ostküste und der Westküste kommen, über das Heartland Amerikas und seine Bewohner immer nur in abfälliger Weise geredet wird. Man nennt sie "fly overs", also die, über die wir hinwegfliegen. Und auf einmal haben sich die "fly overs", die Vergessenen, die Marginalisierten zu Wort gemeldet. Das muss man ernst nehmen, und vor allem die Parteien, die Demokraten zum Beispiel, sollen gefälligst ihre Optik verändern und mal schauen, was passiert in Missoula, Montana, in Stevens Point, Wisconsin, im tiefen Süden und sonst wo.

STANDARD: Sie sind in Ihren Filmen nicht unbedingt daran interessiert, die Liebe zu verewigen, sie ist flüchtig, scheitert oft. Das Thema scheint in Ihrem Werk aber an Wichtigkeit zu gewinnen?

Herzog: Das ist möglich, in Königin der Wüste (2015) geht es zentral auch um zwei tragische Liebesgeschichten. Aber Liebesfilme können andere besser. Es gibt eine gewisse Diskretion in meinen Filmen, es wird nie telefoniert, es wird auch nie geküsst. Oder doch – aber nur ganz selten. (Stefan Gmünder, 13.1.2017)