Inszeniert auf den Spuren der großen Patricia Highsmith im Theater im Zentrum: Thomas Birkmeir lenkt den "Tanker" Theater der Jugend durch politisch aufgewühlte See.


Foto: Robert Newald

STANDARD: Sie inszenieren "Der talentierte Mr. Ripley" nach Patricia Highsmith im Theater im Zentrum. Der Stoff handelt von einem jungen Zyniker, der zum Mörder wird und darüber seine Identität wechselt. Ein Lehrsatz der Moderne lautet: "Ich ist ein anderer." Wie lässt sich ein solcher Satz Theatergehern ab 13 Jahren vermitteln?

Birkmeir: Wie holt man die Jugendlichen ab? Da gibt es kein Programm dafür. Es geht um die Identitätssuche, die an sich in der Pubertät stattfindet. Und es geht darum, sich in der Welt zurechtzufinden. Dabei klammert man sich an Idole. Man reißt sich die Identität des anderen unter den Nagel, was Ripley tut. Er freundet sich mit dem Millionärssohn Greenleaf in Italien an, ermordet ihn und schlüpft in seine Identität.

STANDARD: Eine festgefügte Identität ist etwas Schönes. Aber lebt es sich nicht leichter ohne sie?

Birkmeir: Das sieht man in Österreich an den 46,8 Prozent Hofer-Wählern. Die Frage lautet: Brauchen wir Helden? Über wen holen wir uns aber die Identität? Im Moment scheint es in Europa und in den USA darum zu gehen, sich die Identitätsentwürfe aus dem rechten Lager zusammenzuklauben. Man gibt sich einerseits besonders individuell wie Herr Trump. Der pfeift auf die ganze politische Tradition. Das verschafft einem Wählersegment von annähernd 50 Prozent eine Art von Sicherheit, die sie, die Wähler, über die Herausbildung einer eigenen Identität nicht mehr finden können.

STANDARD: Warum?

Birkmeir: Weil so viel weggebrochen ist. Es fehlt die soziale Sicherheit, und es gibt eine Schwemme von Flüchtlingen.

STANDARD: Oder ein heute 15-Jähriger, der seine Interessen beruflich verfolgt, sieht ab, dass er bald zum Prekariat gehören wird.

Birkmeir: Natürlich ist heute Angepasstheit gefragt, was zwangsläufig einen Identitätsverlust nach sich zieht. Wir müssen nur auf die Bildung blicken, auf das nicht mehr vertretbare Wegbrechen der Geistesfächer. Ich selbst habe meinen Geist an den geisteswissenschaftlichen Fächern geschult. Überblickswissen wird von kapitalistischer Seite heute absichtlich nicht gefordert, denn du sollst ja funktionieren. Die Alternative heißt also nicht Prekariat, sondern hochgradige Anpassungsnotwendigkeit.

STANDARD: Früher war es anders?

Birkmeir: Im Gegensatz zu früher wird heute nicht mehr rebelliert. Die 68er agierten noch aus einem politisch-historischen Bewusstsein heraus. Die Perfidie an Facebook besteht zum Beispiel gerade darin, dass es Identität vorgaukelt. Die Gleichung ist nur rein tautologisch: Ich bin ich. Heute spricht man von "Echoräumen", den 120 "Freunden", die ihre "Likes" unter deinen Facebook-Eintrag klicken.

STANDARD: Anhand von Tom Ripley lernt man die Freude an der Verstellung, am sozialen Rollenspiel.

Birkmeir: Wobei wir das am Theater nicht lehrhaft sehen wollen.

STANDARD: Aber verschafft das Täuschen und Tarnen nicht Lust?

Birkmeir: Die Lust am Rollenspiel ist dem Menschen angeboren. Die Seinszersplitterung ist ein uraltes Thema der Moderne. Hat nicht der Physiker Mach gesagt, das Ich gebe es gar nicht? Letztendlich geht es um Haltungen, die man im Wege der Entwicklung gewinnt. Die können moralisch oder amoralisch sein. Ripley trifft die bewusste Entscheidung für die Amoralität, weshalb er zu einer Ikone des 20. Jahrhunderts wurde. Vielleicht auch des 21. Jahrhunderts. Herr Trump tut genau dasselbe, er disst Frauen und Schwarze. Und wird daraufhin als stark empfunden, als identisch mit sich selbst. Die Konsenspolitik der letzten 70 Jahre, die uns einen langen Frieden beschert hat, wird entsorgt.

STANDARD: Ripley kommt mit seinen Untaten davon. Kann man Jugendlichen Zynismus vorsetzen?

Birkmeir: Ripley empfindet noch nicht einmal Gewissensbisse. Aber diese Art von Zynismus umgibt uns doch. Was anderes als zynisch ist es zu sagen: Wir beuten die Dritte Welt aus – aber zu uns kommen sollen ihre Bewohner nicht?

STANDARD: Beobachten Sie eine Veränderung der Anforderungen, die heute an das Jugendtheater gestellt werden?

Birkmeir: Wir beobachten eine wesentlich längere Konzentrationsdauer bei den Kindern und Jugendlichen, und das trotz der Überreizung, trotz der Vereinzelungsmedien. Vielleicht können sie gerade deswegen längere Spannungsbögen halten! Von der Aufgabenstellung her hat sich nichts verändert. Kinder- und Jugendtheater ist ein politischer Prozess, aber nicht im Sinne einer Indoktrination. Ich will einfach die Lust am Mündigwerden vermitteln. Das ist ein sehr sinnlicher, nicht so sehr ein didaktischer Prozess.

STANDARD: Es gab von Ihrer Seite immer wieder "Hilferufe", die die Nichtabgeltung der Indexsteigerungen am Theater der Jugend betrafen. Der Stand der Dinge?

Birkmeir: Vor zwei Jahren haben wir 600.000 Euro bekommen. Zugewinne wurden von Lohnsteigerungen aufgebraucht. Wir erwirtschaften 46 Prozent Eigendeckungsgrad und bilden damit, als das viertgrößte Sprechtheater in Österreich, die Spitze. Wir zählen 270.000 bis 300.000 Zuschauer. Mich stört in dem Zusammenhang nur, dass wir ein Kinder- und Jugendtheater sind und dass die Politik in diese Form der Bewusstseinsbildung durch Kunst am wenigsten investiert. (Ronald Pohl, 10.1.2017)