Gaziel
Nach Saloniki und Serbien

Eine Reise in den Ersten Weltkrieg
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel
Berenberg-Verlag 2016
272 Seiten, 25,70 Euro

cover: Berenberg Verlag

Wien – "Von all den rauen, deprimierenden, ja verheerenden Szenen, die ich gesehen und erlitten habe, wird nichts, absolut gar nichts bleiben." In seinem bitteren Fazit täuschte sich Gaziel.

Gaziel, das war der nom de plume des Katalanen Agustí Calvet Pascual (1887–1964). Der Erste Weltkrieg überrascht ihn in Paris, wo er mit einem Postdoc-Stipendium Vorlesungen Henri Bergsons besucht, ab und an Zeitungsartikel verfasst, in der Hauptsache aber Paris genossen hat. Er spricht fließend Französisch und ist mit einer Französin verheiratet. Im September 1914 nach Barcelona zurückgekehrt, wird er bekannt mit der Artikelserie "Tagebuch eines Studenten in Paris, 1914".

Für die Tageszeitung La Vanguardia bricht er im Oktober 1915 auf. Seine Ziele: Griechenland und Serbien, letzteres besonders interessant, weil es zwischen Österreich und Bulgarien zerrieben zu werden scheint. Fünf Wochen lang ist er unterwegs. Er fährt von Paris über Mailand, Neapel und Sizilien nach Griechenland, übernachtet im Kloster Megaspiläon, unterhält sich mit Mönchen, kommt nach Athen, spricht, als Journalist aus dem neutralen Spanien, mit hochrangigen Politikern, die ihm die sich gegenseitig neutralisierenden politischen Konstellationen aufzeigen.

Durch den Schnee

Er reist weiter nach Saloniki, die überbordend multiethnische Handelsstadt, dann in die alliierten Militärläger von Zeitenlik. Von dort schlägt er sich mit seinem sprachenkundigen Führer, einem dänischen, in Griechenland lebenden Bildhauer, den er auf der Überfahrt kennen gelernt hat, über Berge und durch Schnee bis nach Monastir – das heutige Bistola – in Mazedonien, wo des Bleibens ein Kurzes ist. Die Rückfahrt verläuft angenehmer als die gefahrvolle Hinreise. Mit der "Hellenia" reist Gaziel nach Hause.

Die Reportagen über diese fünf Wochen sind eine erstaunliche, stupende, fulminante Entdeckung. Nicht nur ist Gaziel ein sehr eleganter Stilist und ein neugieriger, menschlicher, einfühlsamer, nie zynischer Beobachter. Unübersehbar virulent sind die Parallelen von 1915 zu heute: einerseits über Berge sich wälzende Flüchtlingstrecks der vom Krieg Vertriebenen, Gebrochenen, die nicht wissen, wie weiter, wohin; andererseits Besatzer und geopolitische Okkupanten.

Ergreifend ist vor allem das Kapitel über die große jüdische Gemeinde von Saloniki. So leichtfüßig Gaziel, hier seiner Zeit entsprechend leicht antisemitisch, über die Jeremiaden der Sephardim hinwegging, so sehr erfüllten sich deren düstere Schreckensvisionen 30 Jahre später in Massendeportationen und Holocaust.

1920 wurde Gaziel Chefredakteur von La Vanguardia, 1936 floh er vor den Kommunisten nach Frankreich, kehrte 1941 nach Spanien zurück, wurde verhaftet, von den Franquisten vor Gericht gestellt. Ein Berufsverbot wurde über ihn verhängt. Wiederentdeckt wurde der katalanische Laizist, Republikaner und antinationalistische Föderalist Gaziel erst vor zwölf Jahren. Ein Glücksfall. (Alexander Kluy, 9.1.2017)