Ferdinand Schmatz (63): Dichter, Poet, Erkenntnisforscher und Lehrmeister am Institut für Sprachkunst in Wien.

Foto: Andrea Baczynski

Autor Wer sich auf die Lektüre der Essays von Ferdinand Schmatz einlässt, wird behutsam an der Hand geführt und reist mit leichtem, aber sperrigem Gepäck. Schmatz (63) ist der neben Franz Josef Czernin herausragende Vertreter experimenteller Literatur in Österreich. In Schmatzens Aufsätzen findet sich nichts, womit man auf dem Meinungsmarkt Furore machen könnte. Eher schon wirft der Autor in ihnen ein scharfes Licht auf das Geschäft des Dichtens.

Basis Wer nicht bloß schreibt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, sondern auf der Höhe der poetischen Erfordernisse dichtet, sieht sich vor ein Paradoxon gestellt. Indem ihm die Sprache zur Verfügung steht, besitzt er zunächst alles, damit er als Autor aktiv werden kann. Zugleich ist er der ärmste Mensch auf der Welt. Schmatz' älterer Kollege Ernst Jandl benannte das Dilemma so: "Um ein Gedicht zu beginnen, habe ich alles. Um ein Gedicht zu beginnen, habe ich nichts."

Bedeutung Man muss – im übertragenen Sinne – sehr reich sein, um ein solcher dichtender "Habenichts" wie Schmatz zu sein oder werden zu wollen. Dem aus Korneuburg gebürtigen Leiter des Instituts für Sprachkunst der Wiener Angewandten schwebt ein anspruchsvolles Konzept vor. Wer dichtet, also: Verse schreibt, greift nolens volens auf das zurück, was Unzählige vor ihm gesagt, gedacht und inhaltlich festgelegt haben.

Eingriff Als Autor "neuer" Poesie muss man es mit den Inhalten und Formen der Tradition aufnehmen. Umgekehrt stößt der Dichter als "Medium" den Prozess der Bedeutungsbildung erst an. Er greift seinen ersten Sprachgedanken auf. Er gerät darüber ins Stocken oder transformiert, was ihm die erste Eingebung an Lauten, Worten, Sätzen zugetragen hat. Insofern trachtet er danach, die Fundstücke in eine Form – die des Gedichtes – zu bringen. Wobei eine solche Form heute eher nicht der von Goethes Heideröslein ähnlich sieht.

Falke Hat man die 52 (!) Essays in dem Band auf SÄTZE! gelesen und einigermaßen verdaut, so staunt man über Anspruch und Konsequenz von Schmatz' Denkbewegung(en). Zumutung wie Glanz dieser intellektuellen Kärrnerarbeit besteht in der rücksichtslosen Verwirklichung ihrer Ideale. Poetisch handelt nach Schmatz, wer sich darüber klarzuwerden versucht, was passiert, wenn er Bedeutungen – wie flüchtig auch immer – konstruiert oder, bei Lektüre anderer Autorinnen und Autoren, nachempfindet. Er wird zu seinem eigenen Beobachter, oder, genauer gesagt: Er beobachtet sich beim Beobachten.

Gegenläufigkeit Jeder Leser oder Genießer schwieriger Texte wird feststellen, dass Sinn und Sinne zusammenspielen müssen, um ein Verstehen zu gewährleisten. Gute oder vortreffliche Poesie steigert die Wahrnehmungsfähigkeit beinahe ins Unermessliche. Indem der poetische Text die Spur eines Erkenntnisprozesses legt, ist er immer zugleich da und, mit Blick auf seine Abschließbarkeit, nicht da. Schmatz spricht diese Erfahrung mit Blick auf die Gedichte seines Freundes Czernin wie folgt an: "Das Gedicht schwebt, gleitet, changiert, oszilliert zwischen diesen beiden Zuständen, immer Jetzt und nie Jetzt zu sein."

Routen Man wird weit suchen müssen, um anderswo auf ein solches Kompendium wie auf SÄTZE! zu stoßen. Zu den von Schmatz gedanklich aufgeschlüsselten Künstlern und Autoren gehören Elke Erb, Friederike Mayröcker, Christine Lavant, Wolfgang Bauer, Reinhard Priessnitz, Paul Wühr oder eben auch Franz West und Heimo Zobernig. Ein Fest des Sinnes und der Sinne, zur vorurteilslosen Lektüre dringend empfohlen.

Utopie Schmatz sucht nach der Stelle im Bewusstsein, die "unbefleckt" ist: "Wo sich das Ich nach selbstbestimmten Regeln ereignen kann." (Ronald Pohl, 3.1.2017)