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EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (Mitte, rechts von ihm der slowakische Premier Robert Fico) muss die Union durch ein diffiziles Jahr steuern.

Foto: Reuters / François Lenoir

Wenige Tage nach dem Referendum am 23. Juni, bei dem die Mehrheit der Briten für einen EU-Austritt ihres Landes gestimmt hatte, kam es bei einer Plenumssitzung des Europäischen Parlaments zu einer denkwürdigen Abrechnung: Vertreter der Union, voran Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, attackierten die EU-Skeptiker in Großbritannien. Diese hätten die Menschen mit blanken Lügen und ausländerfeindlichen Slogans getäuscht. Der Ton war hart.

Schließlich meldete sich Nigel Farage, Chef der britischen Unabhängigkeitspartei (Ukip), zu Wort: "20 Jahre lang haben Sie über mich gelacht", rief er den Abgeordneten zu, "jetzt aber lache ich!" Der Wortführer der Brexit-Kampagne genoss die Protestrufe. Sie markierten die Stunde seines größten politischen Triumphes.

Von Jugend an Mitglied bei den konservativen Tories, hatte er 1993 Ukip mitgegründet mit dem Ziel, eine "immer engere politische Union" mit gemeinsamer Währung, Außen- und Sicherheitspolitik zu verhindern. Diese war 1991 im EU-Vertrag von Maastricht fixiert worden.

Mehr oder weniger EU?

Ein Vierteljahrhundert später tobt in der ganzen EU ein politischer Glaubenskrieg: mehr oder weniger EU? Das ist auch 2017 die Frage – ob es um Finanzpolitik, Euro, Migration und Flüchtlinge, um Außenhandelsverträge oder Terrorbekämpfung geht.

"Mission erfüllt", höhnte Farage im Juni, der so wie viele Rechtspopulisten auf die Auflösung der EU hinarbeitet. Juncker, die Chefs der großen Fraktionen in Straßburg und die Staats- und Regierungschefs forderten damals, London müsse so rasch wie möglich – bis September – offiziell den Antrag auf EU-Austritt stellen, damit Klarheit geschaffen werde: zuerst über die Bedingungen der "Scheidung"; dann darüber, wie die EU mit 27 Staaten weitertun könne.

Aufräumen nach dem Horrorjahr

Zu lösende Probleme und Krisen gibt es nach dem abgelaufenen "Horrorjahr" genug, ob es um die gescheiterte solidarische Aufteilung von Flüchtlingen geht oder um eine löchrige gemeinsame EU-Außenpolitik in den Krisen und Kriegen von der Ukraine über Syrien bis Libyen. All das hakt seit vielen Jahren an Vetos und Einwänden aus den Nationalstaaten; Großbritannien stets voran.

Es gibt nicht wenige Experten in Brüssel, die glauben, dass der Brexit, die Herauslösung des Landes aus den Verstrickungen des Binnenmarktes, am Ende nicht klappt. Der Union droht politische Lähmung, nicht zuletzt beim Budget. Die Briten sind ein großer Nettozahler. In vielen Mitgliedstaaten sind zudem Rechtspopulisten erfolgreich auf dem Vormarsch: nicht nur in Österreich, Dänemark Finnland. In drei EU-Kernländern gibt es Wahlen, in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland.

Auch in Italien könnte es vorgezogene Wahlen geben. Das Land hat mit der Bankenkrise zu kämpfen. Über diesen Umweg könnte eine Eurokrise ausgelöst werden.

Banges Warten

Bei so vielen Unbekannten und Wahlen geht auf EU-Ebene in der Regel wenig weiter. Anfang Februar wird auf Malta ein eigener Migrationsgipfel stattfinden. Ende März folgt zum 60. Jahrestag der Gründung der EWG (Abschluss der Römischen Verträge 1957) ein Sondergipfel in Rom. Auf Wunsch der Regierungschefs sollten künftige EU-Reformen, der Ausbau der Integration, besprochen werden.

Sechs Monate nach dem Referendum liegt von der Regierung in London kein Konzept vor. Immerhin: Premierministerin Theresa May will Ende März offiziell den Austrittsantrag stellen. Der Union wird neben all diesen internen Problemen 2017 auch der Wind der Weltpolitik um die Ohren blasen. Am 20. Jänner tritt Donald Trump als 45. Präsident der USA sein Amt an. Die Europäer müssen befürchten, dass er Amerika nicht nur wirtschaftlich auf Protektionismuskurs führt, sondern auch sicherheitspolitisch, auf Kosten von EU und Nato. Offen ist, wie es mit Russland und den EU-Sanktionen weitergeht, sollte Trump Deals mit Moskau machen.

Auch südlich des Schwarzen Meeres warten neue Herausforderungen: Präsident Tayyip Erdogan treibt vehement sein Projekt einer Verfassungsreform voran, das eine Präsidialrepublik unter seiner Führung vorsieht. Die EU-Staaten werden damit leben lernen müssen, bangen sie doch um den Migrationspakt mit Ankara und eine Lösung im Zypernkonflikt. Es gibt aber erste Anzeichen, dass die Türkei demnächst die EU wieder mehr braucht: Eine Wirtschaftskrise zieht auf. Diesbezüglich sind Unionsvertreter optimistischer: In der EU stabilisiert sich schwaches Wachstum, die Arbeitslosigkeit geht weiter zurück. (Thomas Mayer aus Brüssel, 2.1.2017)