Wien – Kaum eine technologische Neuerung wird so propagiert wie jene einer vierten industriellen Revolution. Die Industrie 4.0 als selbstorganisierende Produktion, geschaffen nach den Grundsätzen der Informatik, lässt intelligente Maschinen, Logistik, menschliche Mitarbeiter und Kunden nahtlos kommunizieren, um smarte Produkte effizient in kleinsten Losgrößen zu fertigen. Doch sind wir tatsächlich schon so weit, um derartige Visionen Wirklichkeit werden zu lassen? Und wie kann der Weg dahin in der Praxis aussehen – gerade im von Klein- und Mittelbetrieben (KMUs) geprägten Österreich?
"Es gibt keine Lösung, die für alle passt", stellt Oliver Som, der sich am MCI Management Center Innsbruck mit Innovationsmanagement beschäftigt, klar. "In jedem Unternehmen muss man sich selbst die Frage stellen, welche Potenziale bereits vorhanden sind und worin die nächsten Ziele liegen können." Warum kaufen Kunden unser Produkt? Sind die technischen Anlagen bereit für ein Upgrade? Welche Anforderungen punkto digitaler Schnittstellen, Produkte, Services kommen von außen? – Fragen, die sich laut Som, der die ersten Schritte von Betrieben Richtung Industrie 4.0 begleitet, jede Firma stellen sollte.
Viele Fertigungsanlagen sind organisch gewachsene Infrastrukturen. Jahrzehntealte Maschinen, die mit entsprechender Software laufen, stehen neben Neuanschaffungen. "Es gibt KMUs, die fertigen auf Maschinen, die der Großvater selbst entwickelt hat. Teilweise ist auch genau das der Wettbewerbsvorteil", erklärt Som. Nicht immer sei es klug, die alten Anlagen durch neue zu ersetzen.
Doch auch diese Anlagen können smarter werden. "Wenn mit nachgerüsteten Sensoren überwacht wird, welches Bauteil wann in welcher Maschine ist, ist das schon ein Riesenschritt hin zu einem bestandsoptimierten Prozess." Mit den Anforderungen steigt auch der Investitionsbedarf: "Wenn ein Großkunde eine bestimmte Schnittstelle fordert oder die Fertigung seiner Teile in Echtzeit überwachen möchte, wird es auf die althergebrachte Weise vielleicht nicht mehr gehen."
Man könne im individuellen Fall auch zur Erkenntnis gelangen, dass die Konzepte der Industrie 4.0 für das eigene Unternehmen noch nicht zielführend sind – für Som eine "zulässige Lösung".
Wissensvermittlung
Nachdem in vielen KMUs allerdings noch wenig einschlägiges Wissen vorhanden ist, empfiehlt er aber eine Begleitung bei einer entsprechenden Analyse. Gemeinsam mit dem MCI bemühen sich eine ganze Reihe von Initiativen um Hilfestellungen: Eine neue Industrie-4.0-Plattform des Verkehrsministeriums stellt etwa ein Instrument bereit, mit dem Betriebe prüfen können, wie gut sie gerüstet sind. Im von der Förderagentur FFG unterstützten Projekt eIndustrie 4.0 arbeiten etwa TU Wien, Donau-Universität Krems und FH Technikum Wien gemeinsam mit Unternehmen an einer "Kompetenzvertiefung" in technischen und ökologischen Aspekten der Digitalisierung.
Som bedauert, dass die Debatte rund um Industrie 4.0 im deutschsprachigen Raum oft auf Aspekte der Automatisierung und Rationalisierung reduziert wird. "Es kann auch heißen, dass die Produkte smarter werden und neue Services, neue Geschäftsfelder entstehen", so der Forscher. "Ein KMU, das ich betreut habe, verkaufte bisher Waschanlagen, die in der Produktion von Aluminiumteilen zum Einsatz kommen. Nun wird überlegt, ob mithilfe neuer Sensorik ein Echtzeitleistungsmonitoring angeboten und dadurch die Waschleistung dynamisch angepasst werden kann", gibt Som ein Beispiel.
Noch viel Forschungsbedarf
Die Implementierungen von Konzepten, die landläufig unter Industrie 4.0 laufen, dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Forschung in diesem Bereich noch weite Wege vor sich hat, betont dagegen Klaus-Dieter Schewe, wissenschaftlicher Leiter des Software-Competence-Centers Hagenberg. "Der derzeitige Status quo wird oft überschätzt, der noch vorhandene Forschungsbedarf unterschätzt", warnt der Mathematiker. Schewe orientiert sich in seiner Einschätzung an der deutschen Plattform Industrie 4.0, die an den Aktionsplan der deutschen Bundesregierung anschließt, auf den die Kampagne zur neuen industriellen Revolution zurückgeht.
Dort wird in einem Whitepaper Industrie 4.0 etwa als "neue Stufe der Organisation und Steuerung der gesamten Wertschöpfungskette über den Lebenszyklus von Produkten" gesehen. Ein grober Zeitplan für assoziierte Forschungsthemen reicht bis in die 2030er-Jahre hinein. Von Zielen wie einer Virtualisierung der Produktionsprozesse, also der Schaffung umfassender und verlässlicher Modelle und Simulationen, sei man laut Schewe noch weit entfernt: "Der Bereich Systems-Engineering, also einer durchgängigen Entwicklung von Produkten von der Idee bis zur Umsetzung mithilfe virtueller Modellierungen, ist nur in wenigen Unternehmen etabliert."
Er sieht die Forschung gefragt, in interdisziplinärer Weise die "vorhandenen mathematischen, physikalischen, ingenieurwissenschaftlichen und softwaretechnischen Grundlagen" zu integrieren. Schewe: "Ich glaube, dass die Sorge des wissenschaftlichen Beirats Industrie 4.0 beim BMBF (dem dt. Forschungsministerium, Anm.), dass viele der derzeitigen Entwicklungen im Bereich Industrie 4.0 nicht zielführend sind und dass der Begriff mehr und mehr verwässert wird, durchaus berechtigt ist." (Alois Pumhösel, 1.1.2017)