Magnus Carlsen sieht dem neuen Weltmeister zu.

foto: qatarchess2016.com/maria emelianova

Und der heißt Wassyl Iwantschuk.

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Doha – Magnus Carlsen ist nicht zufrieden. Letztes Jahr hatte der Weltmeister im klassischen Schach die Schnellschach-WM in Berlin noch ohne eine einzige Niederlage gewonnen. Heuer hingegen stehen vor dem entscheidenden dritten Turniertag bereits zwei Verlustpartien für den Norweger zu Buche. Carlsen ist augenscheinlich nicht in Bestform, gewinnen will er trotzdem: Das hat schon bei der WM im klassischen Schach vor ein paar Wochen geklappt, warum also nicht auch hier in Doha.

Allerdings hat es Carlsen bei dieser Schnellschach-WM nicht nur mit einem einzigen Herausforderer zu tun, sondern mit einer ganzen Armada starker und stärkster Schachgroßmeister, die dem einstigen Wunderkind wenigstens unten den Bedingungen verkürzter Bedenkzeit eine seiner Schachkronen streitig machen wollen.

Kalte Dusche

In Runde elf, der ersten des dritten und letzten Tages, ist es Anton Korobow aus der Ukraine, am ersten Tag mit fünf Siegen en suite gestartet, der dem Weltmeister gerne ein Bein stellen möchte. Mit den weißen Steinen spielend kommt Carlsen aus der Eröffnung heraus in Vorteil, der Entscheidungstag scheint für den Weltmeister also vielversprechend zu beginnen.

Aber was ist das? Nach zwanzig Zügen ist Carlsens Königsstellung plötzlich offen wie ein Scheunentor, seine Figuren hängen in der Luft, und auf der Uhr des Weltmeisters sind nur noch ein paar Sekunden übrig. Wenige Züge später muss Carlsen entnervt die Waffen strecken, und was fast noch schlimmer ist: Für den unvoreingenommenen Betrachter sieht die Partie aus, als hätte ein Patzer gegen einen Großmeister verloren – so schwach und unüberlegt wirken die Züge des Weltmeisters in dieser Partie.

Nepomnjaschtschi

Wars das? Der Weltmeister notiert bei sieben aus elf, muss zahlreiche Spieler an sich vorbeiziehen lassen. Der neue Führende ist Jan Nepomnjaschtschi, der Russe mit dem unaussprechlichen Namen. Ein Kumpel des Norwegers, der bei der WM in New York per Chat das Spiel Carlsens und Karjakins kommentierte und sich streckenweise entsetzt über die Aussetzer des Weltmeisters zeigte. Mit einem überzeugenden Sieg gegen Wassyl Iwantschuk hat sich "Nepo" an die Spitze gesetzt, von Carlsen trennt ihn bereits ein Respektabstand von eineinhalb Punkten, und: Es sind nur noch ganze vier Runden zu spielen.

Aber Carlsen gibt und gibt nicht auf. Während sich Nepomnjaschtschi ein taktisches Remis gönnt, zündet der Norweger einmal mehr den weltmeisterlichen Turbo, gewinnt erst eine, dann noch eine Partie, und kämpft sich damit ans erste Brett vor. Vor der vierzehnten und vorletzten Runde fehlt Carlsen trotzdem noch ein ganzer Punkt auf den immer noch führenden Russen, dem er nun mit Schwarz spielend gegenübersitzt. Zumindest für Carlsen ist die Lage klar: Er braucht einen weiteren Sieg, um mit seinem Gegner gleichzuziehen, in der letzten Runde gäbe das dann ein Fotofinish.

Alles offen

Wird der Weltmeister also zu einer scharfen Partieanlage greifen? Die Antwort ist nein. Carlsen verteidigt sich asymmetrisch, das ja, er wählt die Caro-Kann-Verteidigung. Aber er lenkt in eine Variante mit einem schwarzen Doppelbauern auf der f-Linie ein, die zwar als grundsolide gilt, in der aber normalerweise nur der Weiße auf Gewinn spielen kann.

Während die Kommentatoren noch über Carlsens Eröffnungswahl rätseln, erarbeitet sich der Weltmeister erst ein positionelles Übergewicht, dann streicht er en passant einen Bauern ein. Nepomnjaschtschi schneidet überraschte bis nachdenkliche Grimassen. Wenig später ist es für den Russen Zeit zum Aufgeben: Carlsens Dame, Turm und Springer sind gemeinsam über den weißen König hergefallen, nichts geht mehr – und alles ist vor dem Schlussdurchgang plötzlich wieder offen.

Mit Caissa im Bunde

Trotzdem hat der Weltmeister ein großes Problem: In der Zweitwertung, die den Eloschnitt der Gegner zum Kriterium hat, liegt er aussichtslos zurück. Nicht weniger als fünf Spieler notieren nach Runde vierzehn bei zehn Punkten, Carlsen ist einer davon und steht doch nur auf dem fünften Platz. Das bedeutet, dass der Weltmeister nicht nur seine Schlussrundenpartie gegen den bärenstarken Aserbaidschaner Shakhriyar Mamedyarov gewinnen, sondern auch noch darauf hoffen muss, dass keiner seiner drei anderen Konkurrenten voll punktet.

Caissa, die Schachgöttin, hat ihre Lieblinge und ihre Launen. Schon des öfteren hat sie sich Magnus Carlsen in wichtigen Momenten zugewandt. Allein, diesmal hat der Weltmeister mit seinen drei Niederlagen doch ein bisschen zu viel gesündigt. Zwar gewinnt Carlsen auch seine letzte Partie überzeugend – die Aufholjagd des Norwegers endet trotz vier Siegen in den letzten vier Runden aber nur auf dem dritten Platz.

Iwantschuk vor Grischtschuk

Denn auch Alexander Grischtschuk und Wassyl Iwantschuk fahren in Runde fünfzehn jeweils Siege ein und platzieren sich damit vor dem Norweger, der seinen Titel als Schnellschachweltmeister abgeben muss. Und Caissa hat ein Einsehen: Iwantschuk, seit den 80er-Jahren in der Weltspitze des Schachs vertreten, sentimentaler Favorit des Publikums und oft im entscheidenden Moment vom Glück verlassen, wird neuer Weltmeister.

Mit siebenundvierzig Jahren ein später, überraschender Karrierehöhepunkt für den sympathischen Routinier – 1988, von Magnus Carlsen war auf Erden noch keine Rede, hatte Iwantschuk übrigens mit dem Team der Sowjetunion die Schacholympiade gewonnen. "Ich muss mich erst an diesen Titel gewöhnen" sagt der neue Schnellschachweltmeister im Interview.

Doppelgold für die Ukraine

Im Damenturnier macht die 26-jährige Ukrainerin Anna Musytschuk mit neueinhalb Punkten aus zwölf Partien souverän den Sack zu, ihren Verfolgerinnen Alexandra Kosteniuk, Russland, und Nana Dzagnidze, Georgien, bleiben nur Silber und Bronze. Eine beeindruckende Leistung Musytschuks, die praktisch das ganze Turnier über ungefährdet in Führung lag.

Am Donnerstag und Freitag wird die Schlagzahl noch einmal erhöht: Mit drei Minuten pro Partie plus zwei Sekunden Zugbonus wird die Blitzschach-WM gespielt, Alexander Grischtschuk heißt der Titelverteidiger in der offenen Klasse. Magnus Carlsen ist nicht nur dank seines starken Schlussspurts im Schnellschach auch in diesem Bewerb der Mann, den es zu schlagen gilt. Ein guter Draht zu Caissa dürfte dafür Voraussetzung sein. (Anatol Vitouch, 28.12.2016)

Endergebnis

1. Ivanchuk Vassily (UKR) 11,0
2. Grischuk Alexander (RUS) 11,0
3. Carlsen Magnus (NOR) 11,0
4. Mamedyarov Shakhriyar (AZE) 10,0
5. Yu Yangyi (CHN) 10,0
6. Nepomniachtchi Ian (RUS) 10,0
7. Anton Guijarro David (ESP) 10,0
8. Vidit Santosh Gujrathi (IND) 9,5
9. Aronian Levon (ARM) 9,5
10. Dominguez Perez Leinier (CUB) 9,5