Unter dem Dach des Bücherwissens winkt auch keine Rettung für den Homo sapiens: der leichtfüßige Flaneur und Gesellschaftsbeobachter Roger Willemsen (1955-2016).

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Wien – In diesem an Toten so jämmerlich reichen Jahr war Anfang Februar auch das Ableben Roger Willemsens zu erdulden. Dieser Geheimwaffe des Geistes im deutschen Medienbetrieb, dieses Reisenden durch die abseitigen wie aktuellen Gegenden des Planeten und des Menschseins, der nur ein halbes Jahr zuvor seine Krebsdiagnose erhalten hatte.

Damals zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück. Woran er gearbeitet hatte, das legte er nieder. Jetzt ist aus dem Nachlass "Wer wir waren. Zukunftsrede" erschienen, eine bis dahin in mündlichen Reden erprobte Art Vorarbeit zu einem nicht mehr geschriebenen Buch.

Der Titel ist literarisches Programm, "Wer wir waren" ist als vorzeitige Rückschau verfasst. Mit den ersten Hominiden, den "letzten kompletten Menschen", lässt Willemsen sie beginnen. Weil: "Wenn man es genau bedenkt, ist vom Anfang aller Tage an alles immer schlechter geworden." Doch schon in der nächsten Zeile gewinnt er seinen Humor wieder, sogar "das Herrentennis" führt er auf das Feld der Klagen.

"Der Globus hat Homo sapiens"

Da ist er, der leichtfüßige, freihändig alles mit allem verbinden könnende Ton, mit dem Willemsen aus der Anschauung des alltäglich sich Abspielenden intellektuelle Funken und sprachliche Leuchtfeuer schlägt. Am Prüfstein Welt kommt keine Behauptung vorbei. Auch diesmal nicht, da er feststellt: "Der Globus hat Homo sapiens." Wie eine Krankheit. Und jener Homo sapiens wiederum leide am "Nichtwissen im Wissen", begründet weniger in einer Ignoranz als einer Ironie gegenüber seiner Umwelt- und Selbstzerstörung. Kulturpessimismus sei out und die von Politik und Warenwelt plakatierte Zukunft "Kitsch".

Es ist ein öder Witz des Schicksals, dieses Buch zu Willemsens letztem gemacht zu haben. Wie ein Vermächtnis an die Nachwelt steht es posthum da. Sein Autor müsste bei ihm stehen. Schon allein um sich gegen Rezensionen zu wehren, die es mit seinem eigenen Ende verquicken und seine Tragweite damit (unwillentlich) schmälern. Willemsen wusste, als er es schrieb, nicht, dass er krank ist. Nichts daran ist privat, sondern alles politisch im Sinne des Einzelnen als einem Gesellschaftswesen.

Kulturkritik, die Moralinpfützen umgeht

Und dieses leide unter der Ausrufung immer neuer Trends durch Markt und Medien. Zwar herrsche allgemein das Prinzip der Flüchtigkeit vor, doch könnten wir uns selbst nicht entkommen. Im Gegenteil, folgert Willemsen: "So gingen wir, nicht aufgehalten von uns selbst." Mit diesem Fortschritt gerät das Echte gegenüber der Simulation in Bedrängnis: "Und als Konsequenz kann man sich nicht mehr vorstellen, dass eine öffentliche Person anders als durch Kalkül entsteht." Die Selfiekultur sei die "Möglichkeit, sich zum Double der eigenen Person zu veredeln".

Was Willemsen festhält, rhetorisch brillant und gespickt mit allerlei Vokabeln der Zeitgenossenschaft, ist nicht neu. Aber er verflicht es, sodass sich aus dem einen Gedanken notwendig der nächste ergibt. In diesem Sinn ist "Wer wir waren" durcherzählt. Moralinpfützen auf dem so tückischen Feld der Kulturkritik geht er aufrichtig aus dem Weg. Dem kollektiv adressierten "Wir" gilt keine Behauptung, die der Leser nicht mit eigener Erfahrung untermauern könnte.

"Organisierte Abwesenheit"

Kritisch spricht Willemsen von der "geradezu moralischen Pflicht" zum Protest, der sich im Handumdrehen als "Akt der Besonderung" entlarvt. Von einer Informationsflut, aus der wir bisher nicht viel Taugliches zur Bewältigung der Zukunft gelesen haben. Von der "organisierten Abwesenheit", in der der heutige Mensch die Parallelhandlung zum Modus Operandi gemacht hat. Und von komplexen Zusammenhängen, die Effekten gewichen seien.

Statt Bewusstsein bildeten wir "Empfindlichkeiten" aus, offenbart als Korrektheitswahn in Rollenbildern und in der Sprache. "Hochempfindlichkeitsmaschinen" nennt Willemsen das. Unser Beitrag zum "Mensch, werde wesentlich"-Diktum vergangener Jahrhunderte sei die "Selbstoptimierung". Welch Missverständnis! Was ist mit Stille? Schönheit?

Noch lieber als er sucht, findet der Mensch Sinn und Ordnung in der Welt, die derzeit wieder besonders durcheinandergekommen scheint. Mit dem scharfen Blick eines denkenden, (mit-)fühlenden Menschen hat Roger Willemsen einen Lageplan der Gegenwart gezeichnet, wie sie sich darstellt, aber nicht sein müsste. Wer wir waren sind 50 letzte Textseiten, die so noch nicht zur gedruckten Veröffentlichung gedacht waren. Es kam leider anders. Immer, aber gerade auch jetzt zum Jahreswechsel eine lohnende Lektüre. (Michael Wurmitzer, 29.12.2016)