413.066 Stimmen. So etwas ist ein Auftrag. Da ist man jedem Einzelnen verpflichtet. Richard Lugner dachte so, als er 1998 gegen Bundespräsident Thomas Klestil angetreten war und einen Achtungserfolg erzielt hatte. Also beschloss er, weiter im politischen Geschäft zu bleiben: Ein Jahr später trat er mit einer ganz auf seine Person zugeschnittenen Wahlpartei "Die Unabhängigen" an – aber da folgten ihm nur mehr 46.943 Wähler. Viel zu wenig für einen Einzug in den Nationalrat. Und auch 17 Jahre später, bei der Bundespräsidentenwahl 2016, rangierte der Baumeister mit 96.783 Stimmen nur noch unter "ferner liefen". Ein bisserl peinlich, aber das gehört bei Lugners offenbar dazu.

810.641 Stimmen. Das kann man natürlich auch als Auftrag interpretieren. Kann davon ausgehen, dass viele der Wähler, die am 24. April Irmgard Griss ihre Stimme gegeben haben, damit eine über die Präsidentschaftswahl hinausgehende Absicht verfolgt haben.

Frau Griss fühlt sich diesen Wählern verpflichtet – wie sie sich schon zwei Jahre lang all jenen verpflichtet gefühlt hatte, die die bis zu ihrem Hypo-Bericht bloß Fachleuten bekannte Juristin zur Kandidatur ermutigt hatten.

Kluger Verzicht auf Parteigründung

Aber wie soll die Kandidatin mit dem Pfund wuchern, von dem sie gar nicht so recht wissen kann, ob sie es überhaupt (noch) besitzt? Griss war klug genug, nicht gleich nach dem ersten Wahlgang so etwas wie eine Griss-Partei zu gründen. Da hätte sich wohl nur der allerhärteste Kern ihrer Wähler dahintergestellt – und der Effekt wäre womöglich inzwischen verpufft.

Andererseits: Die Aufmerksamkeit, die man vor der Bundespräsidentschaftswahl genossen hat, hat schon gutgetan. So etwas vermisst man schmerzlich, wenn alles vorbei ist. Prominenz hat ein hohes Suchtpotenzial. Griss schien zwar bereit, sich einer harten Entziehungskur zu unterziehen – ist dann aber doch für Alexander Van der Bellen vor die Presse getreten.

Aufmerksamkeit wirkt wie eine Droge

Und die Verlockungen bleiben: Journalisten haben es nun einmal gern, wenn sie über Menschen berichten können, die "irgendwie anders" sind – und sie verteilen das Suchtmittel Aufmerksamkeit gern, wenn es ihnen gerade ins Konzept passt.

Verführerisch für die alte Dame: Man kann im Gespräch bleiben – wenn auch vorerst nur im "politischen Tischgespräch" mit Bürgern. Vielleicht kann Frau Griss dabei ja auch Themen setzen. Obwohl das ja kaum jemand erwartet, denn die Stärke von Griss liegt doch eher in den Werten, die sie vertritt. Um vom Glanz der Integrität von Irmgard Griss etwas abzubekommen, werden sich dann wohl auch andere Politiker und deren Parteien anstellen. Womöglich fließt das dann doch in eine Kampagne für die nächste Nationalratswahl ein.

Wobei die politische Erfahrung zeigt, dass man ohnehin nur einen Bruchteil der 810.641 Griss-Stimmen zu der einen oder anderen Partei lenken kann. Das kann man von Richard Lugner lernen. Man muss nicht so peinlich enden wie er. (Conrad Seidl, 28. 12. 2016)