In ihren Lehrveranstaltungen unterrichtet Tara L. Andrews am liebsten sehr praxisnah. "Ich versuche, den Studierenden erst einmal die Angst vor ihrem Computer zu nehmen", sagt sie.

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Wien – Wenn die Geschichts-, Sprach- oder Literaturwissenschaft große Datenmengen zu Rate zieht und per Computer bearbeitet, spricht man von Digital Humanities – ein junges, schnell wachsendes Forschungsfeld. Tara L. Andrews ist seit diesem Semester Professorin für Digital Humanities an der Universität Wien. Sie ist derzeit an der Initiative Semesterfrage der Uni Wien zu "Wie leben wir in der digitalen Zukunft?" (siehe Info unten) beteiligt. Andrews' Lehrstuhl ist am Institut für Geschichte angesiedelt. Nach ihrem Bachelor in Geschichte und Computerwissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT) studierte sie Orientalistik und Byzantinistik in Oxford, wo sich auch promovierte.

STANDARD: Mit Digital Humanities ist manchmal eine Disziplin, manchmal eine Methode gemeint. Was verstehen Sie darunter?

Andrews: Die Digital Humanities nützen digitale Methoden, um geisteswissenschaftliche Probleme zu untersuchen. Man kann aber auch sagen, dass sie sich damit beschäftigen, wie sich geisteswissenschaftliche Fragen und Inhalte angesichts der neuen digitalen Medien verändern. Das Forschungsfeld ist gespalten zwischen diesen beiden Aspekten: computerbasierten Untersuchungen auf der einen und medienwissenschaftlichen Zugängen auf der anderen Seite.

STANDARD: Wie kam es zu Ihrem Forschungsinteresse zwischen Geschichte und Informatik?

Andrews: Selbst in den USA war diese Kombination merkwürdig. Wegen des Dotcom-Booms war klar, dass ich Programmiererin werde. Ich wurde damit reich – auf dem Papier -, aber die Blase platzte, bevor ich es zu Geld machen konnte. Dann wollte ich zurück zum Geschichtestudium. In meinem Doktorat konnte ich die zwei Bereiche verbinden: Ich arbeitete an der kritischen Ausgabe eines armenischen Textes. Viel von dieser Arbeit ist langweilig und repetitiv. Also schrieb ich Computerprogramme, die mir etwa dabei halfen, Manuskripte zu vergleichen. Als ich meine Dissertation abgab, entdeckte ich, dass es auch andere Leute gibt, die auf diese Weise arbeiten. Seitdem verfolge ich eine Digital-Humanities-Karriere, von der ich keine Ahnung hatte, dass sie existiert.

STANDARD: Sie haben die erste Professur für Digital Humanities an der Uni Wien. Sie werden insofern entscheidend zum Selbstverständnis dieses neuen Feldes beitragen. Wie gehen Sie mit dieser Rolle um?

Andrews: Es schauen alle auf mich, um zu entscheiden, was Digital Humanities an der Universität Wien sind. Das ist einschüchternd, aber sehr aufregend. Wir sind dabei, ein ansprechendes Curriculum zu entwerfen. Ich will, dass das Programm eine hohe Computerkompetenz hat. Es ist wichtig, einen Weg zu finden, interessierte Geisteswissenschafter algorithmisches Denken zu lehren. Außerdem möchte ich nicht nur Projekte schaffen, in denen neue Technologien die Grenzen der Geisteswissenschaft erweitern, sondern auch welche, in denen geisteswissenschaftliche Fragen die Grenzen der Computerwissenschaft herausfordern.

STANDARD: In welche Richtung gehen Digital Humanities aktuell?

Andrews: Es geht oft um Korpuslinguistik, also darum, Programme zu entwerfen, die verstehen, wie Sprache funktioniert. Das ist der Bereich, der am ehesten für industrielle Zwecke anschlussfähig ist. Es gibt literaturwissenschaftliche Projekte, die gehen von einfachen Onlinepublikationen bis hin zu Computerprogrammen, die gewisse Muster in den Texten erheben, wie etwa Genremerkmale. Damit könnte die Literatur eines ganzen Jahrhunderts analysiert und eingeteilt werden.

STANDARD: Woran arbeiten Sie aktuell?

Andrews: Ich digitalisiere die kritische Textausgabe, die ich im Rahmen meines Doktorats erstellt habe. Dabei will ich mich nicht nur auf die Darstellung des Textes konzentrieren, sondern auch darauf, wie die enthaltenen Informationen dargestellt werden können, etwa welche Personen vorkommen und in welcher Beziehung diese zueinanderstehen. Aus der Verbindung des Textes mit historischen Daten können neue Erkenntnisse entstehen, vielleicht sogar eine Art soziales Netzwerk des 11. Jahrhunderts. So kann man ein sehr vielfältiges Bild der jeweiligen Gesellschaft zeigen, weil man über die großen Namen der Geschichte hinausgehen kann.

STANDARD: Werden Digital Humanities verändern, was unter einer klassischen akademischen Laufbahn verstanden wird?

Andrews: Da gibt es ein akutes Problem. Die meisten Digital-Humanities-Projekte sind große Kollaborationen, die verschiedene Qualifikationen vereinen, aber meist stehen nur die Namen der Geisteswissenschafter auf den Publikationen, und sie bekommen all die Anerkennung. Es gibt keine gesicherte Laufbahn für Programmierer, die an solchen Projekten arbeiten, was im Widerspruch dazu steht, wie sehr diese Leute gebraucht werden.

STANDARD: Kollaborationen, das Schaffen von alternativen Strukturen, das Sprengen von Schubladen. Das klingt alles nach einer gewissen Hacker-Mentalität.

Andrews: Absolut! In den Digital Humanities gibt es diese Offenheit, etwas einfach einmal auszuprobieren. Es gibt viel mehr Hacker-Ethos. Ich unterrichte lieber sehr praktisch. Kommendes Semester werde ich Programmier-Basics und einige Werkzeuge lehren – etwa was man mit Google Maps machen kann und was nicht. Ich versuche, den Studierenden erst einmal die Angst vor ihrem Computer zu nehmen.

STANDARD: Digital Humanities stoßen auch auf Kritik. Etwa in den Literaturwissenschaften, wenn dem "close reading", also dem genauen Lesen ein computergestütztes "distant reading" gegenübergestellt wird. Wie stehen Sie dazu?

Andrews: Ich höre ständig diese Art von Kritik. Niemand wird jemandem Bücher wegnehmen oder "close reading" abschaffen. "Distant reading" stellt andere Fragen und arbeitet mit einem anderen Text-Korpus, nicht mit dem Kanon, sondern all den Büchern, die man nicht lesen kann. Ich arbeite nicht darauf hin, dass Computer Menschen ersetzen, aber es wäre gut, wenn sie ihr Potenzial ausschöpfen könnten. Es ist nicht sinnvoll, über "Mensch versus Computer" zu sprechen. (Julia Grillmayr, 19.12.2016)